Titelverteidiger Ding Liren hat bei der Schach-WM in Singapur eine weitere Gelegenheit verpasst, seine Führung auszubauen. In der vierten Partie gegen den indischen Herausforderer Dommaraju Gukesh einigten sich beide Spieler zum zweiten Mal in Folge auf ein Remis. Damit steht es 2:2 in dem Duell, das sich zunehmend zu einem Geduldsspiel entwickelt. Die nächste Partie findet am Samstag statt.
Ding, der die Auftaktpartie gewonnen hatte, begann die vierte Partie mit einigen überraschenden Zügen. Doch trotz eines zunächst dynamischen Spiels ging dem Chinesen offenbar der Mut aus, als es darum ging, auf Sieg zu spielen. „Für Dings Siegchancen ist das ein sehr schlechtes Zeichen, dass er sich nicht traut, auf Sieg zu spielen“, analysierte der deutsche Schach-Bundestrainer Jan Gustafsson im Live-Kommentar. Der erhoffte psychologische Vorteil aus seinem Sieg in der ersten Partie sei nicht nachhaltig gewesen, so Gustafsson weiter.
Ähnlich kritisch äußerte sich Magnus Carlsen, der erneut auf eine Teilnahme an der WM verzichtet hat. Der Norweger, der weiterhin die Nummer eins der Weltrangliste ist, sieht den jungen Inder Gukesh als Favoriten: „Ich würde sagen, dass Gukesh der deutliche Favorit ist.“ Das Niveau der bisherigen Partien ließ Carlsen jedoch unbeeindruckt. Die vielen Ungenauigkeiten seien „zu einem gewissen Maße frustrierend zu sehen“, kommentierte er.
Die Schach-WM wird noch bis zum 15. Dezember ausgetragen. In maximal 14 klassischen Partien kämpfen Ding und Gukesh um den Titel. Ein Sieg bringt einen Punkt, ein Remis 0,5 Punkte. Der erste Spieler, der 7,5 Punkte erreicht, wird Weltmeister. Sollte es nach den regulären Partien 7:7 stehen, entscheidet ein Tiebreak mit immer kürzer werdenden Bedenkzeiten über den Titel.
Für Ding Liren steht bei der nächsten Partie am Samstag viel auf dem Spiel. Der Druck, wieder eine entscheidende Partie zu gewinnen, wächst – besonders angesichts der wachsenden Zuversicht seines 18-jährigen Gegners.
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OZD-Kommentar:
Ding Liren: Talent oder Taktik? Ein Weltmeister am Scheideweg
Das erneute Remis zwischen Ding Liren und Dommaraju Gukesh zeigt ein Problem, das den Schachsport auf höchstem Niveau seit Jahren begleitet: Zu viel Vorsicht, zu wenig Mut. Besonders für Ding, der als Titelverteidiger eigentlich die Initiative übernehmen sollte, wirkt seine passive Spielweise wie ein Eingeständnis von Unsicherheit.
Dass ein 32-jähriger Weltmeister einem 18-jährigen Herausforderer scheinbar mehr Respekt zollt, als nötig wäre, spricht Bände. Der junge Gukesh hat nichts zu verlieren – und das macht ihn gefährlich. Ding hingegen scheint unter dem Druck seines ersten Titelkampfes als Verteidiger zu leiden.
Das Schachspiel lebt von kreativen, risikofreudigen Zügen, nicht von zermürbendem Abwarten. Dings Ansatz, sichere Remis-Partien anzustreben, könnte ihm letztlich den Titel kosten. Die Zuschauer wollen keine Strategien der Angst, sondern mutige, unberechenbare Züge sehen.
Der nächste Weltmeister wird nicht nur durch Rechenkünste, sondern durch mentale Stärke entschieden. Ding hat noch Zeit, sich neu zu justieren. Doch wenn er weiterhin die sichere Karte spielt, wird Gukesh die Chance nutzen – und den Titel holen.
Biographien und Erklärungen
Wer ist Dommaraju Gukesh?
Dommaraju
Gukesh ist ein 18-jähriger indischer Schachgroßmeister. Er gilt als
eines der größten Talente des Schachsports und führt erstmals ein
WM-Match gegen den amtierenden Weltmeister Ding Liren.
Warum verzichtet Magnus Carlsen auf die WM?
Magnus
Carlsen, fünffacher Weltmeister, hat bereits 2023 auf die Teilnahme an
der Schach-WM verzichtet. Als Grund nannte er fehlende Motivation, ein
weiteres Titelmatch zu spielen.
Wie funktioniert der Tiebreak bei der Schach-WM?
Steht
es nach 14 regulären Partien 7:7, entscheidet ein Tiebreak. Dabei
werden zunächst Schnellschach-Partien gespielt. Sollte auch danach keine
Entscheidung fallen, folgen Blitz- und Armageddon-Partien mit immer
kürzer werdenden Bedenkzeiten.
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