Die Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihre Verbündeten haben ihre Offensive im Norden Syriens fortgesetzt und am Samstag laut Aktivisten weite Teile von Aleppo sowie den Flughafen der Stadt erobert. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, dass die Rebellen auch in den benachbarten Provinzen Idlib und Hama strategische Gebiete unter ihre Kontrolle brachten. Diese militärische Wendung markiert eine dramatische Eskalation der Kämpfe, die die regionale Stabilität weiter destabilisieren könnte.
Nach Angaben der Beobachtungsstelle habe sich die syrische Armee vom Flughafen im südöstlichen Teil von Aleppo zurückgezogen, was den Dschihadisten die Möglichkeit gab, diese strategische Anlage zu übernehmen. Dies sei das erste Mal, dass solche militanten Gruppen eine solche wichtige Infrastruktur in Syrien kontrollieren. Weitere Berichte sprachen von der Einnahme von "Dutzenden" strategisch bedeutsamer Orte in Idlib und Hama, ohne dass die Dschihadisten auf nennenswerten Widerstand stießen.
Die eroberte Stadt Aleppo, einst ein Zentrum der syrischen Wirtschaft, liegt nun größtenteils unter der Kontrolle von HTS. Laut der Beobachtungsstelle wurden mehrere Regierungsgebäude und Gefängnisse von den Dschihadisten übernommen. Der Iran meldete einen Angriff auf seine Botschaft in der Stadt, das diplomatische Personal sei jedoch nicht verletzt worden. In den Straßen von Aleppo zogen Dschihadisten mit ihren Flaggen umher, rissen Porträts von Präsident Baschar al-Assad nieder und errichteten in Teilen der Stadt symbolische Stützpunkte.
Die syrische Armee bestätigte die Präsenz regierungsfeindlicher Kämpfer in großen Teilen der Millionenstadt und meldete zahlreiche Tote und Verletzte. Ein Sprecher der Armee berichtete von einem schnellen Zusammenbruch ihrer Verteidigungslinien, was laut Expertin Dareen Khalifa von der International Crisis Group auf eine monatelange Vorbereitung der Offensive hinweist.
Die jüngste Eskalation markiert den heftigsten Angriff auf die syrische Regierung seit 2020, mit bereits über 320 Toten, darunter 44 Zivilisten. In Reaktion auf die sich zuspitzende Lage griff Russland erneut in den Konflikt ein und flog Luftangriffe auf Aleppo. Es war das erste Mal seit 2016, dass russische Bombenangriffe in der Region stattfanden. Laut der Beobachtungsstelle töteten diese Angriffe mindestens 16 Zivilisten, als zivile Fahrzeuge ins Visier genommen wurden.
Russland, das als wichtiger Unterstützer von Präsident Baschar al-Assad gilt, zeigte sich besorgt über die Eskalation. Außenminister Sergej Lawrow führte Gespräche mit den Außenministern des Iran und der Türkei, um eine weitere Verschärfung der Kämpfe zu verhindern. Auch der Iran kündigte eine diplomatische Initiative an und plant einen Besuch in Damaskus. In Reaktion auf die Gewalt forderte das französische Außenministerium alle Konfliktparteien auf, das humanitäre Völkerrecht zu achten und die Zivilbevölkerung zu schützen.
Der syrische Bürgerkrieg, der 2011 begann, hat bereits über eine halbe Million Menschen das Leben gekostet und Millionen vertrieben. Seit 2015 hat die Regierung unter Assad mit Unterstützung von Russland und dem Iran große Teile des Landes zurückerobert. In Nordwest-Syrien kontrolliert HTS weiterhin Gebiete in den Provinzen Idlib, Aleppo, Hama und Latakia. Trotz eines von Russland und der Türkei vermittelten Waffenstillstands im Jahr 2020 kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen.
Die Situation in Aleppo bleibt angespannt und könnte zu einer weiteren Destabilisierung des Landes führen, wenn keine schnelle Lösung gefunden wird. Das Internationale Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen haben bereits vor der humanitären Katastrophe in der Region gewarnt.
OZD / ©AFP
Kommentar:
Der eskalierende Krieg in Aleppo – Ein weiteres Kapitel der Zerstörung
Die Eroberung von Aleppo durch die Dschihadistengruppen zeigt einmal mehr, wie instabil die Lage in Syrien bleibt und wie schwer es ist, einen dauerhaften Frieden zu erzielen. Die syrische Regierung, die 2016 mit russischer Hilfe Aleppo zurückeroberte, sieht sich nun mit einer neuen Bedrohung konfrontiert, die nicht nur die militärische Kontrolle, sondern auch die politische Zukunft des Landes infrage stellt.
Der Vormarsch von HTS und ihrer Verbündeten hat nicht nur eine militärische Dimension, sondern auch eine geopolitische. Mit der Unterstützung von Russland und dem Iran zeigt sich erneut, wie fest die syrische Regierung in den Händen ihrer Verbündeten gehalten wird. Doch die militärischen Erfolge der Dschihadisten dürften die internationale Gemeinschaft zu weiteren diplomatischen und militärischen Reaktionen zwingen.
In den kommenden Wochen könnte die Situation noch explosiver werden, wenn Russland weiterhin Luftangriffe fliegt und die Türkei – die ebenfalls in der Region eine Rolle spielt – auf die Entwicklung reagiert. Die Möglichkeit eines direkten militärischen Engagements zwischen den großen Mächten wird zunehmend realer.
Das wahre Leid jedoch trifft die Zivilbevölkerung, die in den von Kämpfen betroffenen Gebieten lebt und kaum eine Möglichkeit hat, dem brutalen Krieg zu entkommen. Internationale Organisationen müssen dringend handeln, um das humanitäre Leid zu lindern und einen neuen politischen Dialog zu initiieren, der diese Gewaltspirale durchbrechen kann.
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Hajat Tahrir al-Scham (HTS)? Hajat Tahrir al-Scham (HTS) ist eine dschihadistische Miliz, die sich 2017 aus verschiedenen islamistischen Gruppen formierte und den syrischen Ableger von Al-Kaida umfasst. HTS kontrolliert weite Teile der Provinz Idlib und hat in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen. Die Gruppe verfolgt eine radikale Auslegung des Islams und lehnt jede Form der Regierung ab, die nicht auf der Scharia basiert.
Was ist die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte? Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ist eine in Großbritannien ansässige Organisation, die seit 2006 Informationen über die Menschenrechtssituation in Syrien sammelt. Sie verfügt über ein Netzwerk von Quellen innerhalb Syriens und ist eine der wichtigsten Informationsquellen über den Krieg im Land, obwohl ihre Angaben nicht immer unabhängig überprüfbar sind.
Foto; AFP
Alle Angaben ohne Gewähr.