Nach dem Vorrücken dschihadistischer Gruppierungen im Norden Syriens haben Aktivisten zufolge die syrischen Regierungstruppen die Kontrolle über Aleppo verloren. „Erstmals seit Beginn des Konflikts im Jahr 2012 ist die Stadt Aleppo nicht mehr unter der Kontrolle der syrischen Regimekräfte“, erklärte Rami Abdel Rahman, der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, am Sonntag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Aleppo, die zweitgrößte Stadt Syriens, war bis zu ihrer Rückeroberung durch Regierungstruppen unter Baschar al-Assad 2016 ein Zentrum erbitterter Kämpfe im Bürgerkrieg.
Die jüngste Offensive wurde von der dschihadistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS), dem syrischen Ableger von Al-Kaida, und ihren Verbündeten gestartet. Diese Überraschungsaktion führte zu den heftigsten Kämpfen seit dem Jahr 2020. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (OSDH) wurden bislang mehr als 320 Menschen getötet, darunter 44 Zivilisten.
Die Syrische Beobachtungsstelle hat ein weitverzweigtes Netzwerk von Quellen innerhalb Syriens, doch ihre Angaben sind schwer unabhängig zu überprüfen. Die syrische Armee bestätigte am Samstag, dass dschihadistische Kämpfer in „große Teile“ von Aleppo eingedrungen seien. Der syrische Präsident Baschar al-Assad ist in dieser Region stark von seinen Verbündeten, insbesondere Russland und dem Iran, abhängig.
Der Iran erklärte, dass „bewaffnete terroristische Gruppen“ das iranische Konsulat in Aleppo angegriffen hätten. Zudem äußerten die USA, dass sie die Ursache für den Vormarsch der Dschihadisten in Syriens „Abhängigkeit von Russland und dem Iran“ sähen. Diese geopolitischen Spannungen könnten das bereits fragile Gleichgewicht im syrischen Bürgerkrieg weiter destabilisieren.
Der Bürgerkrieg in Syrien begann 2011, als Assad gewaltsam gegen landesweite Proteste vorging. Seitdem wurden mehr als eine halbe Million Menschen getötet, und Millionen wurden vertrieben. Aleppo selbst war von 2012 bis 2016 Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Regierungstruppen, oppositionellen Kräften, darunter auch Islamisten, sowie der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS).
Mit der Unterstützung von Russland und dem Iran gelang es der syrischen Regierung ab 2015, große Teile des Landes zurückzuerobern. Aleppo fiel 2016 nach massiven russischen Luftangriffen wieder unter die Kontrolle von Assad. Doch nun könnte sich das Blatt wenden, denn im Norden Syriens haben sich die Frontlinien wieder verschoben. Ein Waffenstillstand, der 2020 durch Russland und die Türkei vermittelt wurde, hatte die Region weitgehend beruhigt, wurde jedoch mehrfach gebrochen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich diese neuen Entwicklungen auf den Verlauf des Bürgerkriegs auswirken werden. Sollte die syrische Regierung die Kontrolle über Aleppo verlieren, könnte dies eine neue Wendung im Konflikt darstellen.
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OZD-Kommentar:
Aleppo: Ein Symbol für den Zerfall Syriens – Der Bürgerkrieg geht in eine neue Runde
Die verlorene Kontrolle über Aleppo markiert einen entscheidenden Moment im syrischen Bürgerkrieg. Wenn die dschihadistischen Gruppen die Stadt weiterhin halten können, könnte dies nicht nur das Ende der Assad-Herrschaft in dieser Region bedeuten, sondern auch den Beginn einer neuen Phase des Konflikts. Der syrische Präsident Baschar al-Assad hatte mit massiver Unterstützung aus Russland und dem Iran große Gebiete zurückerobert, doch nun zeigt sich, wie fragil seine Machtbasis ist.
Das geopolitische Kräfteverhältnis im syrischen Bürgerkrieg verschiebt sich zunehmend zugunsten der Dschihadisten. Der Konflikt könnte sich weiter in Richtung einer Fragmentierung Syriens entwickeln, wobei verschiedene Regionen unter verschiedenen Einflüssen stehen. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte das Land in noch tiefere Zerrissenheit stürzen.
Die geopolitischen Konsequenzen dieses neuen Vorstoßes der Dschihadisten könnten weit über die syrischen Grenzen hinaus spürbar werden. Der Westen, Russland und der Iran haben jeweils eigene Interessen im Land, und das Chaos in Aleppo könnte deren Einfluss auf das Land entscheidend verändern. In den kommenden Wochen könnte sich der Ausgang dieses Machtkampfes als wegweisend für Syriens Zukunft erweisen.
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Rami Abdel Rahman?
Rami Abdel Rahman ist der Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (OSDH). Die Organisation, die in Großbritannien ansässig ist, gilt als eine der wichtigsten Quellen für Berichte über den syrischen Bürgerkrieg, obwohl ihre Angaben häufig schwer zu verifizieren sind. Rahman hat die Beobachtungsstelle gegründet und ist bekannt für seine regelmäßigen Updates über die Entwicklungen in Syrien.
Was ist die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (OSDH)?
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ist eine in Großbritannien ansässige Organisation, die Informationen über den syrischen Bürgerkrieg sammelt. Sie hat ein Netzwerk von Quellen in Syrien und liefert regelmäßig Berichte über die militärischen, politischen und humanitären Entwicklungen im Land.
Offizielle Website: www.syriahr.com
Was ist Hajat Tahrir al-Scham (HTS)?
Hajat Tahrir al-Scham (HTS) ist eine dschihadistische Gruppe, die ursprünglich als Al-Nusra-Front bekannt war und sich 2017 unter ihrer jetzigen Bezeichnung neu organisierte. Sie ist der syrische Ableger von Al-Kaida und kämpft gegen die syrische Regierung und ihre Verbündeten. HTS kontrolliert große Teile der nordwestlichen Provinz Idlib und ist eine der mächtigsten dschihadistischen Gruppen in Syrien.
Offizielle Website: www.hts.org
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