Frankreich steht vor einer politischen Zerreißprobe: Zum ersten Mal seit 1962 ist eine französische Regierung durch ein Misstrauensvotum in der Nationalversammlung gestürzt worden. 331 der 574 Abgeordneten stimmten am Mittwochabend gegen die Regierung von Premierminister Michel Barnier, der erst im September ernannt worden war. Das Abstimmungsergebnis markiert einen historischen Moment, denn es ist auch das erste Mal, dass Links- und Rechtspopulisten gemeinsam für einen Misstrauensantrag votiert haben.
Barnier hatte die Abstimmung über den Sozialhaushalt mit einer Vertrauensfrage verknüpft – ein riskantes Manöver, das seine Amtszeit zur kürzesten in der jüngeren Geschichte Frankreichs machte. Präsident Emmanuel Macron, der wenige Minuten vor der Abstimmung von einem Staatsbesuch in Saudi-Arabien zurückkehrte, muss nun einen neuen Premierminister ernennen. Eine Neuwahl ist laut Gesetz frühestens im Juli 2025 möglich.
Nach dem Sturz der Regierung forderte die linkspopulistische Partei La France Insoumise (LFI) umgehend den Rücktritt Macrons. "Um aus der Sackgasse zu kommen, (...) fordern wir, dass Macron geht", erklärte die LFI-Abgeordnete Mathilde Panot. LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon zeigte sich überzeugt, dass Macron seine Amtszeit nicht bis zur Präsidentschaftswahl 2027 durchhalten werde.
Auch Marine Le Pen, Fraktionschefin der rechtspopulistischen Rassemblement National (RN), stellte die Führungsfähigkeit des Präsidenten infrage. Sie forderte Macron auf, "Verantwortung zu übernehmen", verzichtete jedoch auf einen direkten Rücktrittsaufruf. "Unsere Institutionen sind stark genug, um diese Krise zu bewältigen", betonte sie und signalisierte Kooperationsbereitschaft bei der Verabschiedung eines akzeptablen Haushalts.
Wirtschaftsminister Antoine Armand kritisierte die Links- und Rechtspopulisten scharf und warf ihnen vor, mit ihrem Verhalten das Land zu destabilisieren. Doch die politische Pattsituation bleibt bestehen. Für den Posten des Premierministers sind unter anderem Verteidigungsminister Sébastien Lecornu und der ehemalige sozialistische Regierungschef Bernard Cazeneuve im Gespräch. Doch selbst ein erfahrener Politiker dürfte Schwierigkeiten haben, in der zerstrittenen Nationalversammlung eine stabile Mehrheit zu finden.
Ex-Premierminister Gabriel Attal warnte vor der weiteren Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Linkspopulisten und forderte eine Abkehr von radikalen Positionen. Er plädierte für eine Koalition zwischen Macrons Partei, den konservativen Republikanern und den moderaten Sozialisten, um die Krise zu entschärfen. Doch die Spaltung der Nationalversammlung in drei verfeindete Blöcke – Macrons zentristische Bewegung, das links-grüne Bündnis und die rechtspopulistische RN – erschwert jegliche Kompromisse.
Macron will sich am Donnerstagabend in einer TV-Ansprache an die Nation wenden. Es wird erwartet, dass er einen neuen Regierungschef benennt und einen Plan zur Überwindung der politischen Krise vorstellt. Doch die Frage bleibt: Kann Frankreich in dieser angespannten Lage regierungsfähig bleiben?
ozd / afp
OZD-Kommentar: Politisches Chaos ohne Ende?
Der Sturz der französischen Regierung ist ein Zeichen für die zunehmende Polarisierung der Politik. Der historische Schulterschluss von Links- und Rechtspopulisten zeigt, wie tief die Gräben in Frankreichs Gesellschaft geworden sind. Es ist mehr als ein Misstrauensvotum – es ist ein Symptom einer politischen Krise, die das Land seit Jahren quält.
Präsident Macron steht nun vor einer Mammutaufgabe: Er muss eine Regierung bilden, die in einer tief gespaltenen Nationalversammlung handlungsfähig ist. Doch selbst mit einem erfahrenen Premierminister wie Bernard Cazeneuve oder Sébastien Lecornu dürfte der Weg steinig bleiben. Die Gefahr einer Blockadepolitik durch Opposition und radikale Kräfte ist allgegenwärtig.
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Macron den politischen Willen aufbringen kann, eine Lösung zu finden. Wenn es ihm nicht gelingt, die Nationalversammlung zu einen und stabile Mehrheiten zu schaffen, droht Frankreich eine Phase anhaltender Instabilität – mit verheerenden Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen.
Biographien und Erklärungen
Wer ist Emmanuel Macron?
Emmanuel
Macron ist seit 2017 Präsident Frankreichs. Als ehemaliger
Investmentbanker und Wirtschaftsminister gründete er die zentristische
Partei La République En Marche und setzte sich 2017 sowie 2022 bei den
Präsidentschaftswahlen durch.
Wer ist Michel Barnier?
Michel
Barnier ist ein französischer Politiker und ehemaliger
EU-Chefunterhändler für den Brexit. Er war seit September 2023
Premierminister Frankreichs, wurde jedoch nach einem Misstrauensvotum
abgesetzt.
Was ist die Nationalversammlung?
Die
Nationalversammlung ist das Unterhaus des französischen Parlaments. Sie
besteht aus 577 Abgeordneten und spielt eine zentrale Rolle bei der
Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP