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LINDNER-Interview: Die Menschen nur pur und ohne Parteiideologie entlasten

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner MdB gab dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ (Samstag-Ausgabe) und „rnd.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Eva Quadbeck und Daniela Vates:

Frage: Herr Lindner, Sie loben den argentinischen Präsidenten Javier Milei und den Tech-Milliardär Elon Musk als Vorbilder – mit den Worten man solle „mehr Milei oder Musk wagen“. Ein radikaler Rechtspopulist und ein machthungriger Trump-Unterstützer – sind das die neuen Orientierungsmarken der FDP?

Lindner: Sie nehmen die dunkle Seite der beiden als Bezugspunkt. Man könnte auch sagen, dass Herr Musk der erfolgreichste Unternehmer der Gegenwart ist und Herr Milei alles unternimmt, um seinem komplett runtergewirtschafteten Land Zukunft zu geben. Ich will mich nicht an Stil, politischen Meinungen oder Frisuren orientieren. Aber beide haben den Mut zu Disruption, also grundlegenden Veränderungen. Unser Land sollte schauen, was es lernen kann. Denn die eingetretenen Pfade führen zum Abstieg Deutschlands.

Frage: Milei setzt auf eine Zerschlagung des Sozialstaats, er spart bei Bildung und Infrastruktur. Sein Symbol dafür ist die Kettensäge. Wollen Sie die auch auspacken?

Lindner: Mileis Kettensäge hat sich Robert Habeck vor einigen Wochen rhetorisch geborgt. Da gab es keinen Aufstand. Mir geht es aber nicht um witziges Reden. Was wir von Milei lernen können, ist, auch den Bürokratismus radikal infrage zu stellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass das bürokratische Geflecht, das uns lähmt, zurückgeschnitten werden muss. Und unser Sozialstaat ist teuer, aber nicht zwingend sozial. Er schützt nicht nur die Bedürftigen und Schwachen, sondern ist ein Tag und Nacht arbeitendes Pumpwerk zur Umverteilung von Einkommen geworden. Klar ist auch, dass wir nicht hinnehmen können, dass wir unter den G20-Ländern das Land mit den geringsten Wachstumsaussichten sind. Wenn die Leute Angst haben müssen um ihren Job und die wirtschaftliche Sicherheit, dann wenden sie sich den Rändern zu.

Frage: Machen Sie es konkret: Sie wollen das Bürgergeld kürzen. Um wie viel?

Lindner: Der Regelsatz ist nach aktuellen Berechnungen 24 Euro zu hoch. Er sollte auf dieses Niveau zurückgeführt werden. Außerdem muss die Vermittlung in Arbeit Priorität vor weiterem Bezug von Staatsgeld haben. Und die vom Staat übernommenen Kosten der Unterkunft, also Miete und Nebenkosten, sollten pauschaliert ausgezahlt werden. Das ist ein Anreiz für sparsamen Umgang mit Steuergeld.

Frage: Welchen Beitrag sollten die höchsten Einkommen und Vermögen leisten, um den Staat finanziell handlungsfähig zu halten?

Lindner: Die Hälfte der Steuerzahler leistet bereits heute 90 Prozent der Steuereinnahmen. Es ist Zeit, dass wir einfach einmal Respekt zollen. Beim Bürgergeld geht es um eine staatliche Auszahlung, bei der Steuer nehmen wir Menschen etwas von ihrer Leistung weg. Ich finde nicht, dass hier dieselbe ethische Abwägung funktioniert. Zu hohe Steuern bremsen Leistungsbereitschaft. Deshalb wollte ich ja noch als Finanzminister die Zuschläge für Überstunden steuerfrei machen. Auch hinter Erbschaften steckt Leistung – in einer anderen Generation. Erbschaften sind in Deutschland zudem oft betriebliches Vermögen, also Arbeitsplätze in Familienunternehmen. Es ist kein guter Rat, die zu schwächen.

Frage: Wenn Sie Milei und Musk dafür loben, Dinge zu versuchen, die andere für unmöglich halten – warum sind Sie bei den Klimaschutzzielen so verzagt und wollen sie um fünf Jahre zurückdrehen?

Lindner: Ich bin für ambitionierte Politik, aber nicht für Träumerei. Deutschland will Klimaneutralität fünf Jahre schneller erreichen als die Europäische Union. Dadurch wird global nicht eine einzige Tonne CO₂ weniger ausgestoßen. Es dürften dann aber etwa Italien und Schweden mehr CO₂ ausstoßen…

Frage: …müssten dann aber im Rahmen des Europäischen Emissionshandels mehr zahlen als Deutschland.

Lindner: Vorsicht, denn wenn die deutsche Nachfrage nach CO₂-Zertifikaten endet, dann reduziert das natürlich den Druck auf den Preis. Deutschland hat als einzige G20-Nation keinerlei Wachstum. Da ist es schädlich, frühzeitiger als andere Technologien zu verschrotten und Anlagen außer Betrieb zu setzen, die Jobs sichern und Wertschöpfung bringen. Bei VW und anderen sähe es anders aus, wenn die Politik anders abgebogen wäre. Es ist noch nicht zu spät.

Frage: Parteivize Wolfgang Kubicki sagt, über eine Flexibilisierung der Schuldenbremse lasse sich reden, weil die strikte Festlegung von Ausgaben auf ein Kalenderjahr nicht sinnvoll sei. Fraktionvize Gyde Jensen sagt, die Schuldenbremse sei kein Dogma. Gibt die FDP ihren Widerstand auf?

Lindner: Nein. Olaf Scholz hat mich entlassen, weil ich nicht 15 Milliarden Euro Schulden am Grundgesetz vorbei gemacht habe. Da werde ich mich nicht an einer Aufweichung der Schuldenbremse beteiligen. Wolfgang Kubicki hat zwar recht, dass eine ökonomische Notlage nicht zwischen 31. Dezember und 1. Januar verschwindet. Aber das kann man anders lösen. Ich warne Friedrich Merz vor seiner neu entdeckten Offenheit für Verhandlungen mit SPD und Grünen. Ich kenne die besser als er. Die wollen notwendige Reformen im Staatsapparat vermeiden. Frankreich und Italien würden einen Politikwechsel in Deutschland nutzen, um ihre Reformen auch zu verschieben. Am Ende hätten wir wieder eine Euro-Krise. Wir müssen mit dem vorhandenen Geld einfach besser wirtschaften.

Frage: SPD und Grüne wollen vor der Bundestagswahl noch die Abflachung der kalten Progression und die Anhebung des Kindergelds vom Bundestag beschließen lassen. Sie haben den Gesetzentwurf als Finanzminister aufgesetzt – zieht die FDP also mit?

Lindner: Ich würde gerne sehen, wenn die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler schon mit der Gehaltsabrechnung vom Januar entlastet werden. Dafür habe ich gekämpft. Allerdings sind in dem Ampel-Gesetzentwurf Kompromisse enthalten, die wir als im wahrsten Sinne des Wortes freie Demokraten jetzt nicht mehr akzeptieren müssen. Wenn die Rumpfregierung Scholz also mit der FDP die Menschen doch entlasten will, dann nur pur und ohne weitere Parteiideologie. Sonst macht es die nächste Mehrheit rückwirkend.

Frage: Es gibt einen Gruppenantrag zur Streichung von Paragraf 218 Strafgesetzbuch, der Abtreibung unter Strafe stellt. Wo steht die FDP da?

Lindner: So ethisch komplexe Fragen sollten sorgfältig beraten werden – und nicht hopphopp. Deswegen halte ich eine Bundestagsabstimmung in dieser nur noch sehr kurzen Wahlperiode nicht für weise. Berücksichtigt werden sollte, dass für die Regelung des legalen Schwangerschaftsabbruchs ein gesellschaftlicher Konsens gefunden wurde, der nicht alle befriedigt, der aber stabil ist. Es gibt Alternativen, die Frauen in Not helfen können.

Frage: Nämlich?

Lindner: Unsere Gesellschaft braucht mehr Empathie für Frauen in einer so schweren Lebenssituation. Sie müssen sich über das eigene Leben und das des ungeborenen Kindes Gedanken machen. Sie müssen sich qualifizierte ärztliche Betreuung suchen – was in vielen Teilen des Landes gar nicht so einfach ist. Und sie stehen möglicherweise auch noch vor einer Finanzierungsfrage. Ein Ausdruck von Empathie wäre es, wenn Krankenkassen die Kosten für legale Schwangerschaftsabbrüche übernehmen. Auf der anderen Seite sollten wir unerfüllte Kinderwünsche in unserem Land leichter erfüllbar machen, also durch die legale Leihmutterschaft und Eizellenspende ohne kommerzielle Interessen.

Frage: Für die Ampel hat der Angriff Russlands auf die Ukraine wenige Monate nach ihrem Start viel verändert. Wie sollten sich Koalitionsverträge künftig auf Unvorhersehbares einrichten?

Lindner: Darauf habe ich noch keine abschließende Antwort. Aber die Frage ist mehr als berechtigt.

Frage: Bereuen Sie es, dass die FDP die Ampel nicht früher verlassen hat?

Lindner: Das wird mir vorgeworfen. Das hat mehr Glaubwürdigkeit und Unterstützung gekostet als das Ampel-Aus. Trotzdem finde ich immer noch richtig, alles versucht zu haben. Ich wollte nicht, dass der FDP eine Flucht aus der Verantwortung vorgeworfen wird. Am Schluss ging es aber nicht weiter. Es wäre besser gewesen, wenn ich nach dem Haushaltsurteil letztes Jahr, als der Trick von Scholz mit den 60 Milliarden für verfassungswidrig erklärt wurde, auf einer Neuverhandlung des Koalitionsvertrags bestanden hätte. Damals stand die Ampel ja schon vor dem Aus. Mein großer Fehler.

Frage: Die FDP hat offenbar präzise geplant, wie man die Ampel an die Wand fahren lassen kann. War das verantwortungsbewusst?

Lindner: Der Vorwurf stimmt nicht. Wir wollten eine andere Politik im Interesse des Landes. Die Szenarien, auf die wir uns vorbereitet haben, waren eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik oder gemeinsam herbeigeführte Neuwahlen. Beides wäre besser gewesen als der ungeordnete Verlauf jetzt. Die Option, einfach so weiterzumachen, also weiter rumscholzen, gab es für uns nicht.

Frage: Die „Zeit“ berichtet, Sie hätten das D-Day-Papier in Auftrag gegeben. Trifft das zu? Oder haben Sie die Stoßrichtung des Papiers vor dessen Erstellung ohne konkreten Auftrag vorgegeben?

Lindner: Gut, dass wir kritischen Journalismus haben, der nachfragt. Das wünsche ich mir auch beim Gebaren von Herrn Lauterbach bei den Corona-Maßnahmen oder Robert Habecks Argumenten beim Atomausstieg. Bei der FDP ist bei manchen das kritische Bewusstsein offenbar ausgeprägter. Mehrfach habe ich betont, dass die FDP die Entscheidung getroffen hat, im Herbst entweder eine neue Politik zu erreichen oder neue Wahlen. Und mehrfach habe ich öffentlich gesagt, dass wir uns auf alle möglichen Verläufe im Herbst vorbereitet haben. Die Parteizentrale hat alle Optionen durchdacht. Das ist deren Job. So haben es SPD und Grüne auch gemacht.

Frage: Vielleicht hätte sich die Ampel mehr um Kooperation bemühen müssen. Der Pharmaverband VDA hat ausgerechnet, dass der Ampelbruch die Wirtschaft 20 Milliarden Euro kostet.

Lindner: Der Schaden wäre viel größer gewesen, wenn die Ampel ohne neue Politik fortgesetzt worden wäre. Dann wäre ein weiteres Jahr ohne Wirtschaftswende verstrichen.

Frage: Sie gehen aus dem Ampelbruch beschädigt hervor – nicht zuletzt auch wegen des sogenannten D-Day-Papiers, mit dem in der Parteizentrale der Ausstieg der FDP vorbereitet wurde. Haben Sie sich gefragt, ob Sie als Parteivorsitzender noch der Richtige sind?

Lindner: Natürlich. Es geht mir um unser Land und seine Zukunft. Und mir liegt auch daran, dass die liberale Partei in Deutschland weiter eine bedeutende Kraft ist. Im Zweifel müsste man dann eigene Ambitionen zurückstellen. Ich verantworte schließlich die schwierige Entscheidung, dass die FDP eine andere Politik wollte oder Neuwahlen. Allerdings halte ich diese Haltung nach wie vor für richtig für unser Land. Deshalb bin ich überzeugt, dass ich gerade mit dieser Entscheidung Glaubwürdigkeit und Unterstützung neu gewinnen kann. Jedenfalls war eine unveränderte Fortsetzung der Politik der Ampel gerade keine Option.

Frage: Das heißt, in eine Regierung mit SPD und Grünen würden sie nicht mehr eintreten?

Lindner: Ich muss nicht lange überlegen, um zu sagen: Nein.

Frage: Und doch noch mal ein Jamaika-Versuch mit Union und Grünen?

Lindner: Weitere Koalitionsaussagen können wir erst treffen, wenn wir die Wahlprogramme kennen. Sicher ist, dass eine schwarz-gelbe Regierung gegenwärtig die besten Lösungen für das Land präsentieren könnte. Ich weiß, dass die CDU sich aus machtpolitischen Gründen dazu nicht offen bekennen will. Deshalb stalke ich die nicht. Aber der entscheidende Punkt wäre ja, wie FDP und Union die unzufriedenen Menschen erreichen können, die aus Protest heraus gegenwärtig die Ränder wählen, die aber nicht radikalisiert sind. Da läge der Schlüssel für eine schwarz-gelbe Mehrheit statt Schwarz-Grün. Friedrich Merz denkt ja seit Mittwochabend schon an Robert Habeck als seinen Wirtschaftsminister. Also: Wie adressiert man die Wählerinnen und Wähler insbesondere der AfD?

Frage: Und wie adressiert man die?

Lindner: Der harten Kern von Rechtsextremen, die das ganze System der Bundesrepublik Deutschland zerstören wollen, lässt sich nicht erreichen. Aber das sind doch nicht alle. Den Enttäuschten muss man die Möglichkeit geben, sich wieder dem demokratischen Zentrum zuzuwenden. Die wollen Ordnung bei der Einwanderungspolitik, Entbürokratisierung, gesunden Menschenverstand in der Klima- und Energiepolitik. Es ist eine Frage unseres demokratischen Selbstanspruches, diese Wählerinnen und Wähler nicht einfach ziehen zu lassen.

Frage: Unabhängig vom Ausgang der Wahl: Ist danach Zeit für Sie, den Parteivorsitz nach dann zwölf Jahren abzugeben? Vielleicht braucht die FDP ja auch Disruption und neuen Schwung.

Lindner: Es gibt im Frühjahr einen Bundesparteitag, auf dem turnusgemäß die oder der Vorsitzende gewählt wird. Selbstverständlich kann da jede und jeder kandidieren.

Frage: Kandidieren Sie?

Lindner: Da haben zuerst die Wählerinnen und Wähler im Februar das Wort.