In Syrien hat sich nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad eine Welle der Hoffnung und Verzweiflung entladen. Tausende von Menschen strömten zum Saidnaja-Gefängnis, das für die Brutalität der Assad-Diktatur bekannt ist, um nach ihren seit Jahren inhaftierten Angehörigen zu suchen. Die mehrstöckige Haftanstalt nördlich von Damaskus ist von vielen als Symbol der repressiven Herrschaft des Assad-Clans angesehen.
„Ich bin wie eine Verrückte hierhergelaufen, in der Hoffnung, meinen Bruder zu finden“, sagte die 65-jährige Aida Taha. Ihr Bruder wurde 2012 verhaftet und ist seither verschwunden. Sie war eine von Tausenden, die sich am Montagabend vor dem Gefängnis versammelten, um eine Spur von ihren Liebsten zu finden. Doch die Türen des Gefängnisses blieben verschlossen, da angeblich die Zugangscodes fehlten. Die Hilfsorganisation Weißhelme, die vor Ort ist, erklärte, sie werde nach geheimen Türen und möglichen versteckten Zellen suchen, um den Inhaftierten zu helfen.
Das Saidnaja-Gefängnis ist nur ein Beispiel für das brutale System, das Baschar al-Assad von seinem Vater Hafis übernommen hatte, der 1970 die Macht in Syrien an sich gerissen hatte. Unter der Assad-Dynastie wurden zahlreiche Menschen aufgrund politischer Andersartigkeit gefoltert und eingesperrt. Seit den brutalen Niederschlagungen pro-demokratischer Proteste im Jahr 2011 und dem darauffolgenden Bürgerkrieg, der mehr als eine halbe Million Menschen das Leben kostete, sind viele syrische Familien zerrissen. Millionen Syrer wurden in die Flucht getrieben.
Mit dem Sturz Assads durch die islamistische Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) endete ein blutiger Abschnitt der syrischen Geschichte. Am Wochenende hatten die HTS-Kämpfer eine überraschende Offensive gestartet, die in nur wenigen Tagen Damaskus erreichte, während Assad angeblich nach Russland floh. HTS-Chef Mohammed al-Dscholani kündigte an, eine Liste von Ex-Beamten zu veröffentlichen, die an den Folterungen des syrischen Volkes beteiligt waren. „Wir werden Belohnungen für Informationen über hochrangige Armee- und Sicherheitsbeamte anbieten, die in Kriegsverbrechen verwickelt sind“, erklärte al-Dscholani auf Telegram.
Im Saidnaja-Gefängnis und an anderen Orten in Syrien wächst die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Doch politische Unsicherheit bleibt in dem von Gewalt gezeichneten Land allgegenwärtig. Trotz der Feiern in Damaskus, wo zahlreiche Menschen in den Straßen unterwegs waren und Freudenschüsse abgefeuert wurden, bleibt die Zukunft des Landes fraglich.
Am Montag traf al-Dscholani den syrischen Regierungschef Mohammed al-Dschalali, der von Assad ernannt wurde. Es ging um die Vorbereitung einer Übergabe der Macht, die auch die „Erbringung von Dienstleistungen“ an die Bevölkerung sicherstellen soll. Das Parlament erklärte, dass es den Willen des Volkes unterstütze, ein neues Syrien aufzubauen, das auf Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit beruhe. Auch die Baath-Partei, die Assads Herrschaft stützte, versprach, eine Übergangsphase zu fördern, die „die Einheit des Landes verteidigen“ soll.
Die westlichen Regierungen reagierten unterschiedlich auf den Sturz Assads. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärten ihre Bereitschaft, mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten, wobei sie jedoch darauf drängten, dass Menschenrechte und der Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten gewährleistet werden müssen. Der britische Premierminister Keir Starmer zeigte sich zurückhaltend und betonte, dass es noch zu früh sei, die Haltung gegenüber der HTS zu überdenken. Großbritannien hat die HTS als Terrororganisation eingestuft.
US-Außenminister Antony Blinken erklärte, dass die USA alles tun würden, um zu verhindern, dass die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Syrien wieder an Boden gewinnt. „Wir haben ein Interesse daran, eine Zersplitterung Syriens zu verhindern und den Export von Terrorismus und Extremismus zu stoppen“, so Blinken.
Währenddessen eskaliert die Situation auch an den Grenzen zu Israel. Das Land schickte nach dem Sturz Assads Soldaten in die Pufferzone auf den Golanhöhen. Israels Außenminister Gideon Saar nannte dies jedoch einen „begrenzten und vorübergehenden Schritt“. Die UNO erklärte, dass dieser Vorstoß gegen ein Abkommen aus dem Jahr 1974 verstoße, das die Grenze zwischen Israel und Syrien regelt.
Seitdem Assads Regime kollabiert ist, haben die israelischen Luftstreitkräfte rund 250 Angriffe auf Syrien geflogen und wichtige militärische Einrichtungen zerstört. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden unter anderem Flughäfen, Munitionslager und Forschungszentren ins Visier genommen.
Auch die libanesische Hisbollah verurteilte Israel nach dem Sturz Assads. In einer ersten Reaktion bezeichnete sie die israelischen Angriffe als einen Versuch, „mehr Land in den Golanhöhen zu besetzen“ und „die Verteidigungsfähigkeiten Syriens zu zerstören“.
Der UN-Sicherheitsrat beriet sich am Montag über die aktuelle Lage in Syrien. Zwar gab es bei der nichtöffentlichen Sitzung keine konkreten Beschlüsse, jedoch wollen die Mitglieder die Entwicklungen weiter beobachten und abwarten, wie sich die Situation in den kommenden Wochen entwickelt.
OZD-Kommentar:
Ein zerbrochenes Syrien – der steinige Weg zur Versöhnung
Der Sturz von Baschar al-Assad markiert das Ende einer düsteren Ära in Syrien, doch das Land steht vor einer noch ungewissen Zukunft. Die Suche nach Gerechtigkeit und die Frage, wie die Machtübergabe gestaltet werden kann, sind nur die ersten Schritte auf dem langen und steinigen Weg zu einer stabilen syrischen Gesellschaft. Die Enthüllung von Folterlisten und die Jagd auf Verantwortliche für Kriegsverbrechen sind notwendig, aber allein nicht genug, um den tiefen Riss zu heilen, den der Bürgerkrieg in Syrien hinterlassen hat.
Die westlichen Staaten müssen in den kommenden Monaten aufpassen, dass sie nicht nur ihre politischen Interessen wahren, sondern auch den Menschenrechten Vorrang geben. Die HTS mag sich zwar moderat präsentieren, doch ihre Vergangenheit als Ableger von Al-Qaida wirft Fragen auf, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Gleichzeitig müssen die neuen Machthaber in Syrien die Grundlage für einen nachhaltigen Frieden schaffen – und dabei die Stimmen derjenigen einbeziehen, die jahrelang unter Assads Regime gelitten haben.
Die geopolitische Lage bleibt angespannt, und die internationalen Akteure müssen dafür sorgen, dass Syrien nicht weiter in Chaos und Zerstörung versinkt. Ein klarer Kurs in Richtung Demokratie und Menschenrechte könnte der Schlüssel sein, damit Syrien endlich aus den Trümmern seiner Vergangenheit aufbauen kann.
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Baschar al-Assad?
Baschar al-Assad ist der Präsident von Syrien und Mitglied der Assad-Dynastie. Er übernahm die Macht im Jahr 2000 nach dem Tod seines Vaters Hafis al-Assad, der das Land von 1970 bis zu seinem Tod regierte. Assads Herrschaft war von politischer Unterdrückung, Menschenrechtsverletzungen und dem blutigen Bürgerkrieg ab 2011 geprägt. Weitere Informationen finden Sie auf der Wikipedia-Seite.
Was ist Hajat Tahrir al-Scham (HTS)?
Hajat Tahrir al-Scham ist eine islamistische Miliz in Syrien, die 2017 aus der Al-Nusra-Front hervorging, dem syrischen Ableger von Al-Qaida. Sie spielt eine wichtige Rolle im syrischen Bürgerkrieg und kontrolliert Teile des Nordwestens des Landes. Weitere Informationen finden Sie auf der Wikipedia-Seite.
Was ist die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte?
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ist eine in Großbritannien ansässige, oppositionelle Organisation, die Informationen und Berichte über die Menschenrechtssituation in Syrien sammelt und verbreitet. Weitere Informationen finden Sie auf der Wikipedia-Seite.
Foto: AFP
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