Nach dem überraschenden Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad durch die islamistische Miliz Hajat Tahrir al-Schams (HTS) stehen Syrien und die Region vor einer grundlegenden Veränderung. Die neuen Machthaber in Syrien streben an, sämtliche militärischen Gruppen im Land unter die Kontrolle der syrischen Armee zu bringen. HTS-Chef Ahmed al-Scharaa kündigte am Sonntag an, dass alle bewaffneten Gruppen ihre Auflösung bekannt geben und sich den staatlichen Streitkräften anschließen würden.
In einer Pressekonferenz mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan erklärte al-Scharaa, dass seine Miliz keine Waffen außerhalb der staatlichen Kontrolle dulden werde. Dies betrifft besonders die Gebiete im Nordosten Syriens, die derzeit von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) gehalten werden, einer kurdisch dominierten Miliz. Die SDF steht im Mittelpunkt geopolitischer Spannungen, insbesondere im Verhältnis zur Türkei, die die YPG-Miliz als Ableger der PKK betrachtet.
Die Türkei unterstützt die HTS und betrachtet sie als eine stabilisierende Kraft in der Region. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan forderte erneut, dass alle „Terrorgruppen“ in Syrien, insbesondere die YPG, aus dem Land entfernt werden sollten. Erdogan erklärte, es sei „an der Zeit, die in Syrien existierenden Terrorgruppen auszurotten“, was die Spannungen weiter anheizen dürfte.
Während al-Scharaa und Fidan die Hoffnung auf einen regionalen Frieden äußerten, bleibt die Frage, wie die internationalen Akteure auf die Umstrukturierung in Syrien reagieren werden. Die HTS wird von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft, aber al-Scharaa selbst versucht, die Miliz als gemäßigte und vereinigende Kraft darzustellen, die für die Sicherheit aller ethnischen und religiösen Gruppen im Land arbeitet.
„Syrien ist ein Land für alle, und wir können zusammenleben“, versicherte al-Scharaa während der Pressekonferenz. Derweil setzte die HTS ihre diplomatische Offensive fort und trat mit der drusischen Minderheit im Libanon in Kontakt, um die regionale Souveränität zu betonen und ihre Unabhängigkeit von außenstehenden Kräften zu unterstreichen.
In einer weiteren überraschenden Wendung erklärte al-Scharaa, dass Syrien seine Einflussnahme im Libanon einstellen und die Souveränität des Nachbarlandes respektieren werde. Dies könnte ein Schritt in Richtung einer Deeskalation der Spannungen in der Region sein, vor allem in Anbetracht der historischen syrischen Präsenz im Libanon.
Die neuen syrischen Machthaber kündigten ebenfalls an, dass sie zu einem regionalen Frieden beitragen wollen. Um die politische Stabilität zu sichern, wurde Assaad Hassan al-Schibani zum Außenminister ernannt, der bereits 2011 der syrischen Revolution gegen Assad beigetreten war. Al-Schibani soll nun die Außenpolitik der HTS leiten und versuchen, Syrien als moderaten Akteur in der internationalen Gemeinschaft zu positionieren.
OZD/AFP
OZD-Kommentar:
Ein radikaler Umbruch – Syrien unter neuer Führung: Wohin geht der Weg?
Die Entwicklungen in Syrien werfen viele Fragen auf. Der Sturz von Baschar al-Assad und die Machtübernahme der HTS könnte einen Wendepunkt in der Geschichte des Landes markieren, aber auch neue Spannungen hervorrufen. Die geplante Integration aller bewaffneten Gruppen in die syrische Armee ist eine gewaltige Aufgabe, die nicht nur die interne Struktur des Landes verändern, sondern auch das geopolitische Gleichgewicht der Region beeinflussen könnte. Insbesondere die Türkei und die USA werden ein Auge auf diese Veränderungen werfen, da ihre eigenen Interessen in Syrien weiterhin tief verankert sind.
Die HTS, die noch vor wenigen Jahren als eine radikale islamistische Miliz galt, versucht nun, sich als stabilisierende Kraft zu präsentieren. Die Frage ist, ob die syrische Bevölkerung und die internationalen Akteure diesem Wandel vertrauen werden. Der Versuch, Syrien zu stabilisieren und eine inklusive politische Struktur zu schaffen, könnte langfristig zu einer Versöhnung in einem gespaltenen Land führen. Doch bis dahin ist es ein langer Weg.
Prognose: In den kommenden Wochen könnten wir mehr diplomatische Initiativen der neuen syrischen Führung sehen, um ihre Position in der internationalen Gemeinschaft zu festigen. Die Beziehungen zur Türkei werden dabei weiterhin eine Schlüsselrolle spielen, ebenso wie die Haltung der USA gegenüber den kurdischen Kräften in Syrien. Die militärische Neuordnung des Landes könnte zudem zu weiteren Konflikten führen, vor allem in den Gebieten, die noch von der SDF kontrolliert werden.
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Ahmed al-Scharaa?
Ahmed al-Scharaa, der als Chef der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Schams (HTS) bekannt ist, spielte eine zentrale Rolle im Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Zuvor war al-Scharaa unter dem Kampfnamen Mohammed al-Dscholani bekannt. Die HTS war maßgeblich an den Kämpfen im syrischen Bürgerkrieg beteiligt und strebt nun an, das Land unter ihrer Kontrolle zu stabilisieren. Al-Scharaa setzt sich für die Schaffung eines vereinten Syriens ein, das die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen im Land repräsentiert.
Wer ist Hakan Fidan?
Hakan Fidan ist der türkische Außenminister und eine der zentralen Figuren in der Außenpolitik der Türkei. Als langjähriger Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdogan spielte Fidan eine Schlüsselrolle in den diplomatischen Bemühungen um Syrien und die Region. Fidan setzt sich für die Bekämpfung des kurdischen Einflusses in Syrien und den Nahen Osten ein, insbesondere im Zusammenhang mit der YPG und der PKK, die er als Terrororganisationen betrachtet.
Was ist Hajat Tahrir al-Schams (HTS)?
Hajat Tahrir al-Schams (HTS) ist eine islamistische Miliz, die im syrischen Bürgerkrieg eine bedeutende Rolle spielte. Sie entstand 2017 aus der Fusion verschiedener islamistischer Gruppen, darunter al-Nusra, einer ehemals mit Al-Qaida verbundenen Organisation. HTS hat sich in den letzten Jahren als eine der mächtigsten militärischen Kräfte in Syrien etabliert und strebt nun an, das Land zu stabilisieren und eine neue politische Ordnung zu etablieren.
Was ist die Demokratische Kräfte Syriens (SDF)?
Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) sind eine kurdisch dominierte militärische und politische Organisation, die insbesondere in Nordostsyrien aktiv ist. Die SDF kämpft gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) und wird von den USA unterstützt. Sie ist eine der zentralen Akteure im syrischen Konflikt und steht im Zentrum der Spannungen zwischen der Türkei und den kurdischen Kräften in der Region.
Alle Angaben ohne Gewähr.
Titelbild AFP
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