Sehr geehrter Herr Dr. Schuster,
sehr geehrter Herr Graumann,
sehr geehrter Herr Grünbaum,
sehr geehrter Herr Professor Friedman,
sehr geehrte Frau Sander,
sehr geehrter Herr Staatsminister,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
liebe Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
reichlich zwei Kilometer von hier entfernt, im Plenarsaal des Frankfurter Römers, begann Ende 1963 einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Prozess platzte hinein in die Zeit des Wirtschaftswunders, der vollen Warenhäuser, des angestrengten Blicks nach vorn.
Initiiert vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, von dem schon die Rede war, der als Jude und als SPD-Mitglied im Nationalsozialismus selbst verfolgt worden war, standen hier in Frankfurt 22 Mitglieder der Lagermannschaft von Auschwitz vor Gericht. 18 Jahre nach Kriegsende berichteten über 350 Zeuginnen und Zeugen aus 19 Ländern von unvorstellbaren Verbrechen. Für nicht wenige der Beobachter bekamen hier in Frankfurt die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum ersten Mal ein Gesicht und eine Stimme. Sie legten vor den Augen der schockierten nationalen und internationalen Öffentlichkeit minutiös Zeugnis ab vom Alltag eines von Deutschen begangenen, beispiellosen Menschheitsverbrechens.
Gefragt, was ihn antreibe, äußerte Fritz Bauer: „Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, dass Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist.“ Wenn der Staat kriminell sei, sei Mitmachen kriminell, egal ob als aktiver Täter, Nutznießer oder nur beifällig nickender Zuschauer.
Es ist diese bleibende Wahrheit, es ist diese Aufforderung an uns alle, nie mehr wegzuschauen, Nein zu sagen, die Fritz Bauer hier in Frankfurt gegen Anfeindungen, gegen Vorwürfe der Nestbeschmutzung, gegen erhebliche Widerstände aus dem damaligen Justizapparat erkämpft hat.
Unrecht nicht zu dulden, nie mehr wegzuschauen, Nein zu sagen, das muss auch uns heute Richtschnur sein, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – gerade heute, wo Antisemitismus, Rechtsextremismus, völkisches Gedankengut, wo teils unverhohlene Menschenfeindlichkeit vielerorts eine erschreckende und alarmierende Normalisierung erfährt. Vor allem das Internet und soziale Netzwerke werden oft zu Durchlauferhitzern für extremistische Positionen, für Hass und Hetze – Hass, der nicht im Netz bleibt, sondern Bürgerinnen und Bürger, besonders oft Jüdinnen und Juden, real gefährdet.
Wenn wir also heute gemeinsam darüber sprechen, was die Politik für jüdisches Leben in Deutschland tut, dann muss die erste Antwort sein: Wir schauen nicht weg. Wir schauen hin und wir handeln, wenn Bürgerinnen und Bürger unseres Landes angefeindet werden, weil sie Jüdinnen und Juden sind.
Deswegen schützen unsere Sicherheitsbehörden die jüdischen Gemeinden. Deswegen bekämpfen wir in Deutschland konsequent jede Form von Antisemitismus, Terrorpropaganda und Menschenfeindlichkeit. Deswegen verfolgen wir mit den Mitteln des Strafrechts diejenigen, die Terrorismus unterstützen und antisemitisch hetzen. Deswegen haben wir im neuen Staatsangehörigkeitsrecht ganz klar geregelt, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht. Und deswegen haben wir in der Europäischen Union mit dem Digital Services Act einen robusten Rechtsrahmen, um gegen Anbieter großer Online-Plattformen vorzugehen, wenn sie systematisch zur Verbreitung von Desinformation und Hassrede beitragen.
Die zweite Antwort muss sein, dass wir die Erinnerung an den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch der Schoah wachhalten und jeder Generation in unserem Land immer wieder neu vermitteln: Unsere Verantwortung hört nicht auf. Dabei geht es gerade heute gegen jede Relativierung, um die Vermittlung der historischen Wahrheit, der unzweifelhaften Fakten, denen sich jede und jeder in unserem Land stellen muss, unabhängig von Herkunft, Familiengeschichte oder Religion: sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden, getötet in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Kulmhof, Belzec, Sobibor und Treblinka, ausgehungert in Ghettos und Arbeitslagern, umgekommen auf Todesmärschen, erschossen und erschlagen bei Massakern in mehr als 1.500 Städten, Kleinstädten und Dörfern in Osteuropa.
Und am 27. Januar gedenken wir auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus. Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der ermordeten politischen Gegner des NS-Regimes, der ermordeten Homosexuellen, der ermordeten Kranken, Behinderten und als sogenannte Asoziale Diffamierten. Wir gedenken der ermordeten Polinnen und Polen und der ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen.
80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist es wichtiger als je zuvor, diese Fakten klar auszusprechen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Ich trete jedem Schlussstrich, jedem „Lange her“ entgegen. Auschwitz bleibt „eine brennende Wunde der Menschheit, ein sich auf ewig gen Himmel erhebender Schrei der Opfer“. So schrieb es der Auschwitzüberlebende und spätere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski noch kurz vor seinem Tod in einem Buch über seinen lebenslangen Einsatz für das Gedenken. Seinen Bericht schloss er mit einer Bitte und seiner Hoffnung im Namen aller Zeitzeugen: „Ich habe berichtet, Zeugnis abgelegt. Die letzten von uns gehen heim. Es bleiben unsere Geschichten. Ihr tätet gut daran, Schlüsse daraus zu ziehen.“
Damit auch die nächsten Generationen, Kinder und Jugendliche von heute, die richtigen Schlüsse ziehen, gehört zur Vermittlung der historischen Fakten auch die Vermittlung von Empathie mit den Opfern. Die Schoah, das sind Millionen einzelne Geschichten, Schicksale voller Leid, Trauer und Verlust. Das waren Menschen wie du und ich. Auch um diese Einsicht muss es bei unserer Erinnerungsarbeit gehen.
Diese Einsicht in einer Gesellschaft mit unterschiedlichsten Herkunftsgeschichten zu vermitteln, ist eine zentrale Aufgabe der Gedenkstätten und der Unterstützung des Bundes für deren Arbeit. Wir sind hier gemeinsam mit Ihnen, mit den Gedenkstätten und allen Beteiligten auf dem Weg zur Reform des Gedenkstättenkonzepts. Dieser Diskussionsprozess ist wichtiger als die Tagespolitik. Er wird sicherlich nicht in den kommenden Wochen des Wahlkampfes beendet sein, sondern auch in der nächsten Legislaturperiode weiter geführt werden müssen.
Die Aufgabe, Empathie zu vermitteln, steht auch im Fokus des Bundesprogramms „Jugend erinnert“, das wir im vergangenen Jahr modernisiert und verstetigt haben. Auf diese Perspektive legen wir großen Wert bei der vielfältigen Zusammenarbeit und bei der Unterstützung für Gedenkorte im In- und Ausland, die wir vonseiten des Bundes weiter ausbauen werden. In diesem Zusammenhang bin ich sehr froh, dass der Bund im vergangenen November den Förderbescheid zur Neugestaltung der hessischen „Euthanasie“-Gedenkstätte Hadamar erteilen konnte und so unter anderem die umfassende Modernisierung der Dauerausstellung unterstützen wird.
Ich möchte beim Thema Empathie bleiben und damit zum dritten Punkt kommen, nämlich was die Politik, aber was vor allem auch jede und jeder Einzelne für jüdisches Leben in Deutschland tun kann: nämlich es als Selbstverständlichkeit begreifen und behandeln. Dazu gehört Sichtbarkeit. Das Chanukka-Fest, das Anfang des Monats zu Ende gegangen ist, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Auch in diesem Jahr stand ein Chanukka-Leuchter unter anderem wieder auf dem Pariser Platz in Berlin. Hier in Frankfurt stand einer auf dem Opernplatz. Genau da gehören Sie hin, an die prominentesten Plätze unserer Städte. Und keine feige Sachbeschädigung, wie es sie auch in diesem Jahr wieder gab, kann daran etwas ändern. Sie gehören in die Mitte unserer Städte als ein unmissverständliches Zeichen jüdischer Selbstverständlichkeit – der Selbstverständlichkeit, dass Chanukka zu Deutschland gehört, genauso wie Weihnachten und das Zuckerfest, dass Synagogen zu Deutschland gehören wie Kirchen und Moscheen und dass wir in diesem Land untrennbar zusammengehören. Unser aller Anspruch, von dem wir niemals abrücken dürfen, muss sein, dass das jüdische Deutschland genauso selbstverständlich, genauso alltäglich ist wie das Deutschland jedes anderen Glaubens oder Nichtglaubens. Leider sind wir davon noch entfernt. Das ist und bleibt empörend.
Und ja, wir müssen Versäumnisse aufarbeiten. Es war naiv zu glauben, in einer Einwanderungsgesellschaft würden irgendwann schon alle die gleiche Perspektive auf unsere Geschichte einnehmen, nur weil sie hier wohnen. Ich finde es gut, dass die Kultusministerkonferenz anlässlich des Jahrestags des brutalen Terrorangriffs der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober noch einmal bekräftigt hat, den Umgang mit Antisemitismus, Judentum, jüdischer Geschichte und jüdischer Gegenwart – dazu gehört natürlich auch der Staat Israel – in allen Schulfächern, die dafür infrage kommen, zu verankern. Das muss nun auch schnell geschehen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz aufgreifen, was alle meine Vorredner gesagt haben und was richtig ist. Ich bin froh, dass jetzt drei Geiseln freigelassen worden sind. Ich habe immer wieder mit den Angehörigen der von der Hamas Entführten gesprochen, auch in Israel, und ich kann sagen: Es ist sehr bedrückend, diese Gespräche zu führen. Deshalb ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass auch die übrigen Geiseln freikommen und dass diejenigen, die gestorben sind, ausgeliefert werden, sodass die Angehörigen Abschied nehmen können. Aber es bleibt eine bittere Wahrheit, dass ein furchtbarer Terrorangriff Ursache all dieses Leids ist, ein Terrorangriff, der das Ziel der Entmenschlichung hatte. Darauf war er ausgerichtet. Das dürfen wir niemals vergessen.
Ich habe über die Aufklärung an den Schulen gesprochen. Diese Art von Aufklärung ist weiterhin bitter nötig, in Schulen genauso wie in Universitäten, Ausbildungsbetrieben, Integrationskursen und im ganz normalen Alltag. Ich weiß, viele jüdische Gemeinden, auch hier in Frankfurt, wollen das unterstützen, bieten Synagogenführungen an und organisieren Informationsveranstaltungen. Ich kann Lehrerinnen und Lehrer, Ausbilderinnen und Ausbilder nur ermutigen und bitten: Nehmen Sie mit Ihren Schülern und Auszubildenden solche Angebote an! Wir gehören zusammen. Sprechen wir miteinander, nicht übereinander!
Das ist hier in Frankfurt schon deswegen ein Muss, weil man diese Stadt kaum ohne ihre fast 900 Jahre alte jüdische Geschichte und ihre feste Verbindung zum Judentum verstehen kann. Der Oberbürgermeister hat darauf hingewiesen. Hier in Frankfurt war eines der Zentren des Reformjudentums. Hier wirkten bekannte Rabbiner aller religiösen Richtungen. Viele Institutionen wie die Goethe-Universität oder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gehen auf jüdische Gründung zurück. Selbst die nationalsozialistische Verfolgung, selbst Vertreibung und der Mord an mindestens 12.000 Frankfurter Jüdinnen und Juden konnte diese Verbindung nicht zerstören.
Wie tief auch die emotionale Beziehung zu dieser Stadt war und ist, das lässt sich vielleicht an der ergreifenden Geschichte von Rabbiner Dr. Leopold Neuhaus erahnen, die Frau Rabbinerin Klapheck in einer Publikation aus dem vergangenen Jahr erzählt hat. Nachdem er, der Rabbiner der Vorkriegsgemeinde, fast drei Jahre im Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte, war Dr. Neuhaus dringlichster Wunsch, nach der Befreiung so schnell wie möglich nach Frankfurt zurückzukehren, um die Gemeinde wieder aufzubauen. Der letzte Rabbiner Frankfurts in der Zeit der Schoah wurde damit für eine kurze Zeit auch der erste Rabbiner danach. Schon Anfang Mai 1945 hatte er in einem Brief um Unterstützung beim Transport für ihn und die weiteren Überlebenden aus Frankfurt gebeten. Sie alle würden – Zitat – sehnsüchtig darauf warten, von hier aus in die Heimat zu kommen. Heimat, was für ein Wort!
„Auf Leben“ haben sie als Motto der Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der offiziellen Neugründung im vergangenen Jahr gewählt. In diesem Titel steckt eine so treffende Beschreibung der Geschichte der Gemeinde seit 1949. Aus dem langsamen Wiederaufleben nach dem Menschheitsverbrechen der Schoah mit anfänglich 800 Mitgliedern, die vielfach auf gepackten Koffern saßen, hat sich eine der größten und lebendigsten jüdischen Gemeinden Deutschlands entwickelt, eine Gemeinde, der es gelungen ist, innerhalb weniger Wochen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ein Willkommenszentrum für ukrainische Geflüchtete aufzubauen, die seit Kriegsbeginn mehr Ukrainerinnen und Ukrainer und Frauen und Männer aus der ehemaligen Sowjetunion als Mitglieder aufgenommen hat als jede andere jüdische Gemeinde, eine Gemeinde, die bei der Integration Geflüchteter weiterhin Großes leistet, und eine Gemeinde, die mit der Eröffnung der Jüdischen Akademie um ein bedeutendes intellektuelles Zentrum bereichert wird. Ich bin sehr froh, dass wir als Bundesregierung einen Beitrag leisten können, um dieses große Projekt zu realisieren. Ich bin mir sicher: Diese Akademie in der Tradition des jüdischen Lehrhauses von Franz Rosenzweig wird eine große Strahlkraft entwickeln und ein lebendiger und sichtbarer Ort der Debatte für Frankfurt und weit darüber hinaus werden.
Das ist ein Grund zur Freude und noch ein Grund, um im Sinne des Mottos der Feierlichkeiten des vergangenen Jahres auf das Leben anzustoßen, auf das jüdische Leben hier in Frankfurt, das so selbstverständlich zu dieser Stadt gehört wie der Römer oder die Eintracht. Jüdisches Leben, das ist Frankfurt. Jüdisches Leben, das ist Deutschland, das sind wir. Das bleibt, 80 Jahre danach, und das werden wir weiterhin mit aller Kraft verteidigen, jeden Tag.
Schönen Dank.
Bulletin 05-4
Die Bundesregierung
Foto: Bundesregierung/Marvin Ibo Güngör