Syrien steht am Wendepunkt: Nach Jahrzehnten der Assad-Herrschaft und einem blutigen Bürgerkrieg wurde das Regime am 8. Dezember durch die islamistische HTS-Miliz gestürzt. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa verspricht nun Reformen, doch die Bevölkerung ist gespalten – zwischen Hoffnung auf Freiheit und Furcht vor einer neuen autoritären Herrschaft.
In seiner ersten Fernsehansprache skizzierte al-Scharaa die nächsten Schritte für Syrien: Ein Komitee soll eine „Konferenz des nationalen Dialogs“ vorbereiten, um „verschiedene Standpunkte“ zu hören. Zudem kündigte er eine „Verfassungserklärung“ an, die als rechtliche Basis während der Übergangszeit dienen soll.
Er erklärte weiter, dass er eine „echte Übergangsjustiz“ schaffen wolle, um jene zur Rechenschaft zu ziehen, die während des Bürgerkriegs „syrisches Blut vergossen“ haben – egal ob sie sich in Syrien oder im Ausland befinden. Dies deutet auf mögliche Prozesse gegen frühere Regimevertreter und Militärs hin.
Doch nicht alle glauben an einen demokratischen Neuanfang. Al-Scharaa wurde von der syrischen Übergangsregierung ernannt, die unter der Kontrolle der HTS-Miliz (Haiʾat Tahrir asch-Scham) steht. Die Gruppe, die früher mit al-Qaida in Verbindung gebracht wurde, hat sich zwar offiziell von ihrer extremistischen Vergangenheit distanziert, verfolgt aber weiterhin eine strenge islamistische Agenda.
Die große Frage: Wird Syrien eine Demokratie – oder ein islamistischer Staat?
Viele Syrer fürchten, dass die HTS-Miliz ihre Macht nicht freiwillig abgeben wird. In einer von Intellektuellen gestarteten Onlinepetition fordern Künstler, Schriftsteller und Akademiker daher die „Wiederherstellung fundamentaler Freiheiten“, darunter:
✔ Meinungs- und Pressefreiheit
✔ Religionsfreiheit
✔ Versammlungs- und Demonstrationsrecht
Die Petition warnt auch vor einer möglichen Islamisierung Syriens. Der Staat dürfe sich nicht in das tägliche Leben der Bürger einmischen – etwa bei Kleidungsvorschriften oder Essgewohnheiten. Droht ein neues Taliban-Regime am Mittelmeer?
Die politischen Entwicklungen in Syrien werden genau beobachtet – auch von internationalen Akteuren. In Damaskus traf sich al-Scharaa mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani. Katar, das enge Beziehungen zu islamistischen Gruppen unterhält, könnte als Vermittler zwischen der neuen syrischen Führung und der internationalen Gemeinschaft auftreten. Al-Thani betonte die „dringende Notwendigkeit“ einer Regierung, die „alle Syrer repräsentiert“. Er sprach sich für eine „wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau“ aus – doch ohne klare politische Strukturen bleibt die Frage, wer Syrien in die Zukunft führen wird.
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Kommentar
Droht eine neue Welle der Gewalt?
Während al-Scharaa von Frieden spricht, bleibt die Sicherheitslage instabil. Die neuen Machthaber haben die syrische Armee aufgelöst, ebenso wie alle anderen bewaffneten Gruppen. Doch die Frage ist: Wer kontrolliert das Land jetzt?
Der Zerfall der syrischen Armee könnte ein Machtvakuum schaffen, das neue Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen auslöst. Zudem ist unklar, ob Anhänger des alten Regimes oder säkulare Kräfte gegen die islamistische Dominanz rebellieren werden.
Neubeginn oder neue Diktatur?
Nach über einem Jahrzehnt Krieg, hunderttausenden Toten und unzähligen Flüchtlingen erhoffen sich viele Syrer endlich Frieden. Doch die Unsicherheiten bleiben:
Wird Syrien demokratischer oder nur von einer Diktatur in die nächste überführt?
Bleiben Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz erhalten?
Wird der Westen die neue Regierung anerkennen – oder sie als islamistische Gefahr einstufen?
OZD / AFP
Biographien und Erklärungen:
Wer ist Ahmed al-Scharaa?
Ahmed al-Scharaa ist Syriens neuer Übergangspräsident. Er wurde von der HTS-dominierten Übergangsregierung ernannt, nachdem das Assad-Regime gestürzt wurde. Über seine politische Vergangenheit ist wenig bekannt, doch er muss nun beweisen, ob er tatsächlich demokratische Reformen umsetzen wird.
Wer ist die HTS-Miliz?
Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) ist eine islamistische Miliz, die lange als Ableger von al-Qaida galt. Obwohl sie sich offiziell von extremistischen Ideologien distanziert hat, wird sie weiterhin von vielen als radikal angesehen. Sie spielte eine Schlüsselrolle beim Sturz Assads.
Was fordert die Petition syrischer Intellektueller?
Die Petition setzt sich für die Wiederherstellung demokratischer Grundrechte ein, darunter Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Religionsfreiheit. Sie warnt vor einer möglichen Einführung islamischer Gesetze durch die neuen Machthaber.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP