Privatsphäre – brauchen wir die noch? Nur die Älteren werden sich noch an den Volkszählungsboykott im Jahr 1987 erinnern. Damals unterstützte ein breites Bündnis von Aktivisten, das von Teilen der FDP und der Gewerkschaften über den 11. Strafverteidigertag bis zu den Grünen reichte, den Boykott einer bundesweiten Volkszählung, die unter anderem der Überprüfung der Melderegister dienen sollte.
Heute nutzen vermutlich auch die meisten derer, die damals die Volkszählung boykottiert oder die Fragebögen bewusst falsch ausgefüllt haben, ein Smartphone, auf dem Apps installiert sind, die automatisch Daten speichern und versenden – an wen auch immer. Wer genau die Daten erhält, zu welchen Zwecken sie genutzt und an wen sie weitergegeben werden: All dies ließe sich (vielleicht) ermitteln. Den meisten scheint das aber nicht der Zeit und Mühe wert. Als Zumutung empfinden viele nicht, dass Dritte unsere Daten sammeln, sondern, dass man sogar beim Arzt eine Datenschutzerklärung zur Kenntnis nehmen muss. Mit Daten „bezahlen“? Na klar – das spart mir ja Geld. Und in den sozialen Medien ist oft genug Exhibitionismus angesagt: die Selbstinszenierung und Zurschaustellung für andere. Ist die Idee einer Privatsphäre, die es zu schützen gilt, also überholt?
Vielleicht ist sie sogar gefährlich – zum Beispiel für unsere Gesundheit? Wenn jeder stets sein Smartphone bei sich trüge, mit der Corona-App, die in diesen Tagen entwickelt wird, ließe sich die Übertragung lebensgefährlicher Krankheiten doch viel besser begrenzen. Und gäbe es nicht, wenn jede Wohnung videoüberwacht würde, mit Sicherheit weniger häusliche Gewalt? Sollten wir nicht von China lernen und ein Sozialkredit-System einführen, das diejenigen, die sich rücksichtsvoll verhalten und der Gemeinschaft dienen, belohnt? Umfragen zufolge war im vergangenen Jahr schon jeder fünfte Deutsche dafür.
Tatsächlich war Privatsphäre früher ein Luxus. Als man den Begriff noch gar nicht kannte, war sie nur Herrschern und Reichen vergönnt. Erst in der Neuzeit hat sich, parallel zur Etablierung der Rechtsinstitution des Privateigentums, die Auffassung durchgesetzt, dass jedes Individuum einen Anspruch auf eine Privatsphäre hat. Dieser Anspruch ist zwar nicht in allen Staaten rechtlich verbrieft, seit 1948 aber in Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte international anerkannt.
Dafür gibt es gute Gründe. Denn das Maß an Respekt, das eine Gesellschaft der Privatsphäre ihrer Bürgerinnen und Bürger entgegenbringt, ist ein Indikator für den Freiheitsspielraum, den sie ihnen gewährt. In der Privatsphäre sind die Einzelnen der unmittelbaren Kontrolle Dritter entzogen: Hier können sie im Vertrauen darauf handeln, sich für ihr Handeln weder öffentlich noch vor Staatsorganen oder anderen Instanzen rechtfertigen zu müssen. Indem Gesellschaften anerkennen, dass Individuen einer Privatsphäre bedürfen, schaffen sie deshalb Schutzräume und Nischen für individuelle Lebensweisen. Dadurch wird nicht nur eine Pluralität von Lebensformen möglich, sondern auch das Erproben von Neuem erleichtert: zum Beispiel das Äußern von Gedanken, die noch nicht zu Ende gedacht sind und die man in der Öffentlichkeit nicht aussprechen würde, sei es, weil man sich nicht blamieren will, oder aus Furcht vor Sanktionen. Oder das Experimentieren mit Verhaltensweisen, für die Dritte womöglich kein Verständnis aufbringen würden. Gesellschaften, die ihren Mitgliedern eine Privatsphäre zubilligen, fördern daher die individuelle Kreativität. Zugleich erleichtern sie es denen, die politischen Entscheidungen kritisch gegenüberstehen, sich miteinander zu verbünden: Wo ein hohes Maß an Privatsphäre gewährleistet ist, kann es deshalb leichter zur Überwindung ungerechter Herrschaft kommen. Diktatoren zollen der Privatsphäre des Einzelnen daher selten Respekt.
Auch Facebook-Gründer Zuckerberg hat die Privatsphäre schon vor zehn Jahren zum Auslaufmodell erklärt. Gerade im digitalen Zeitalter sollten wir aber darauf beharren, dass Staaten, Konzerne und Private unsere Privatsphäre respektieren. Denn die Kommunikation mittels digitaler Medien gleicht oft einem Auftritt vor Publikum. Das aber bedeutet, dass Kommunizieren strategisch geplant, meine Wirkung auf die Zuhörer kalkuliert sein will. Eine Privatsphäre erlaubt dagegen Formen der Kommunikation, bei denen man auf strategisches Handeln verzichten kann – und einen Austausch von Gefühlen und Gründen, der nicht der Kontrolle Dritter unterliegt. Ihr Schutz sollte uns deshalb heute mehr denn je ein Anliegen sein.
Autor Prof. Dr. Reinold Schmücker ist Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der WWU.
Prof. Dr. Reinold Schmücker
Foto Prof.Dr. Reinold Schmücker © WWU - Benedikt Weischer
Titelbild: Privatsphäre im digitalen Zeitalter (Symbolfoto) © WrightStudio - stock.adobe.com