Die Arbeitsbedingungen auf großen Schlachthöfen und die Unterbringung der Beschäftigten sorgen wegen der hohen Anzahl von Corona-Infektionen weiter für Kritik. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) forderte die Branche auf, Konzepte zur Einhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu entwickeln. Die Versorgung der Bevölkerung dürfe nicht "zu Lasten der Mitarbeiter gehen." Im baden-württembergischen Birkenfeld wurden von 1100 Beschäftigten eines Schlachtbetriebs über 400 positiv getestet, in einem Betrieb in Coesfeld in Nordrhein-Westfalen sind es über 250 von 1000.
Klöckner tauschte sich am Dienstag in einer Telefonkonferenz mit den Verbänden der Fleischwirtschaft aus, wie ihr Ministerium mitteilte. Sie mahnte: "Schwarze Schafe schaden dem Ansehen der gesamten Branche." Es gebe Regeln, die unbedingt eingehalten werden müssten, und die Einhaltung werde von den zuständigen Behörden kontrolliert. "Ich erwarte von allen Beteiligten, dass sie sich ihrer Verantwortung gerade auch in der Krise bewusst sind."
In dem fleischverarbeitenden Betrieb in Birkenfeld bei Pforzheim wurden 82 von 850 neu überprüften Beschäftigten positiv getestet, wie das Landratsamt Enzkreis am Montagabend mitteilte. In einer ersten Runde waren bereits knapp 330 Arbeiter positiv getestet worden.
Landrat Bastian Rosenau erklärte, die Zahlen seien "eindeutig zu hoch". Er forderte die Unternehmensverantwortlichen zu "grundlegenden Veränderungen des Systems" auf. "Wir wissen, dass die Wohnverhältnisse die Infektionsketten fördern - das ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsache." Er sehe beim Unternehmen die Pflicht, hier Verbesserungen umzusetzen. Nach Angaben aus Rumänien stammen 500 der Beschäftigten in Birkenfeld aus dem südosteuropäischen Land.
In Coesfeld wurden bis Montagabend 1008 Beschäftigte auf das Coronavirus getestet; 254 von ihnen positiv, wie der Kreis Coesfeld mitteilte. Landrat Christian Schulze Pellengahr erklärte, die systematische Überprüfung der Wohnstätten werde nun intensiviert.
Im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein zeigte sich Landrat Torsten Wendt "erstaunt" über einen Antrag des Schlachthofes in Bad Bramstedt, negativ getestete Werkvertragsarbeiter, die in Quarantäne in ihrer Unterkunft in Kellinghusen sind, wieder einzusetzen. Das Unternehmen drohte demnach unter kurzer Fristsetzung mit einer Klage. In Steinburg und im Kreis Segeberg waren knapp 130 Mitarbeiter des Betriebs positiv getestet worden.
Bei einem Einsatz seien "zahlreiche Möglichkeiten der gegenseitigen Ansteckung gegeben", erklärte Wendt. Das Herauslösen der negativ getesteten Beschäftigten sei "epidemiologisch gesehen sinnlos", da sich auch bislang nicht Infizierte jederzeit anstecken könnten. Auch beim Transport der Arbeiter in einem Bus könnten Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) forderte grundlegende Reformen in der Fleischwirtschaft. Es sei davon auszugehen, "dass wir es hier nicht mit einzelnen Vorkommnissen zu tun haben, da die Arbeits- und Lebensbedingungen in der gesamten Fleischwirtschaft vergleichbar sind", zitierte das "Handelsblatt" aus einem Brief an die Bundesministerien für Arbeit, Landwirtschaft und Wirtschaft sowie die Bundestagsfraktionen.
Die NGG forderte, dass nun "unverzüglich und ausnahmslos" alle Beschäftigten der Schlacht- und Zerlegeindustrie auf Corona-Infektion getestet werden. Außerdem sollten Werkverträge im Kernbereich unternehmerischen Handelns verboten sowie möglichst bundeseinheitliche Standards für die Unterbringung der Mitarbeiter vereinbart werden.
Der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts, Lars Schaade, sagte am Dienstag in Berlin, die jüngsten Ausbrüche etwa in Schlachthöfen hätten die sogenannte Reproduktionszahl angehoben. Seit Samstag lag die Zahl in Deutschland wieder über eins, nachdem sie zuvor bis Freitag unter diese kritische Marke gesunken war. Die Reproduktionszahl gibt an, wieviele Menschen ein Infizierter während seiner Erkrankung im Schnitt mit dem Erreger ansteckt.
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