Mit der sechsten Leitzinssenkung in Folge versucht die Europäische Zentralbank (EZB), der konjunkturellen Unsicherheit im Euroraum entgegenzuwirken. Die Entscheidung, den zentralen Einlagenzins auf 2,25 Prozent zu senken, ist Teil einer strategischen geldpolitischen Lockerung, die nicht nur auf innenwirtschaftliche Herausforderungen reagiert, sondern zunehmend durch externe Faktoren wie die aggressive Zollpolitik der USA unter Präsident Donald Trump bestimmt wird. OZD/AFP
Ein historischer Kurswechsel
Noch im Oktober 2023 war die Welt eine andere: Die EZB hatte die Leitzinsen infolge der stark gestiegenen Inflation schrittweise angehoben. Damals standen Preisstabilität und Inflationsbekämpfung im Zentrum der geldpolitischen Entscheidungen. Erst im Juni 2024 begann mit der ersten Zinssenkung die Wende – ausgelöst durch abnehmende Inflationstendenzen und zunehmende wirtschaftliche Risiken aus dem Ausland. Seitdem folgten weitere fünf Zinsschritte nach unten. Eine kurze Atempause im Juli 2024 war lediglich ein taktisches Innehalten.
Heute, im April 2025, zeigt sich: Die EZB steuert ihre Zinspolitik zunehmend flexibel und situationsbedingt. Die jüngste Entscheidung erfolgte vor dem Hintergrund einer "außergewöhnlich hohen Unsicherheit", wie die Notenbanker betonten. Ein klarer Verweis auf das erratische Verhalten der US-Handelspolitik, das nicht nur die transatlantischen Beziehungen, sondern auch globale Lieferketten und Investitionsentscheidungen destabilisiert.
Gehoffte Wirkung: Kreditvergabe und Konjunkturimpulse
Die Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes auf 2,40 Prozent sowie des Spitzenrefinanzierungssatzes auf 2,65 Prozent soll vor allem eines bewirken: Die Vergünstigung von Krediten für Unternehmen und Verbraucher. In der Theorie führt dies zu höheren Investitionen, Konsum und letztlich zu einem Aufschwung der Konjunktur. Ob diese Hoffnung aufgeht, hängt jedoch entscheidend davon ab, ob die Unternehmen angesichts der geopolitischen Unsicherheiten bereit sind, zu investieren – und ob die Haushalte Vertrauen in eine stabile wirtschaftliche Entwicklung fassen.
Silke Tober vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) bewertet den Zinsschritt als notwendig. Sie verweist auf das erhöhte Rezessionsrisiko durch die US-Zollpolitik und fordert sogar eine weitere geldpolitische Lockerung. Auch der DIHK sieht in der Entscheidung ein positives Signal, das den Unternehmen helfen könne, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Kontroverse Stimmen zur EZB-Politik
Doch nicht alle Beobachter teilen den Optimismus. Der Bundesverband deutscher Banken warnt vor einer zu kurzfristigen Orientierung der Geldpolitik. Die mittel- bis langfristigen Folgen der Handelskonflikte auf die Inflation seien noch gar nicht absehbar. Eine überhastete Lockerung könne sich daher als kontraproduktiv erweisen.
Tatsächlich bleibt die Inflationslage im Euroraum komplex: Mit 2,2 Prozent liegt die Teuerungsrate im März knapp über dem Zielwert der EZB von zwei Prozent. Zwar ist das ein positives Signal, doch die Volatilität internationaler Märkte – von Energiepreisen bis hin zu Versorgungsketten – lässt wenig Raum für Prognosesicherheit.
Fazit: Balanceakt in stürmischen Zeiten
Die erneute Leitzinssenkung ist Ausdruck eines Balanceakts. Zwischen Wachstumsimpulsen und Inflationssorgen, zwischen globalen Risiken und innereuropäischen Herausforderungen muss die EZB ihre geldpolitischen Instrumente feinjustieren. Die Hoffnung ist, durch günstige Finanzierungsmöglichkeiten die Konjunktur zu stabilisieren, ohne neue Preisblasen zu erzeugen. Ob dieser Spagat gelingt, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen – abhängig von der geopolitischen Lage und dem Vertrauen der Marktteilnehmer in die Handlungsfähigkeit der EZB.
OZD/vB
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