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Jammern gilt es nicht

Das Wolfgang Borchert Theater ist zurück. Gottseidank! Nach der wegen Corona verordneten fast dreimonatigen Zwangspause gab es jetzt mit „Momentum“ die langersehnte Premiere eines neuen Stückes – unter Auflagen selbstverständlich. Das aber tat dem Theatererlebnis kaum einen Abbruch.

Die Premiere von „Momentum“ musste auf mehrere Abende aufgeteilt werden. An die neuen Abläufe und Reglements werden wir uns wohl gewöhnen müssen. Man wird zu seinem Platz geleitet – selbstredend mit Mund-Nasen-Schutz – und in reichlich gelichtete Sitzreihen. Da kommt Wehmut auf.

Mit dem Schauspiel von Lot Vekemans startet das Theater erneut seinen Betrieb und die Freude sowie Erleichterung darüber sind allenthalben zu spüren. Es fehlte nur, dass sich das auf knapp 35 Personen reduzierte Premierenpublikum, Intendant Meinhard Zanger und Regisseurin Tanja Weidner im Foyer in den Armen liegen. Dem Impuls musste man widerstehen. Aber spätestens beim langanhaltenden Applaus am Ende des Stückes sprangen die Gefühle in Wellen hinüber auf die Bühne und von dort wieder zurück. Da standen Freudentränen in den Augen.  

Foto F. IvenDas neue Stück wurde unter vielen Einschränkungen lange geprobt. Die Proben waren noch vor den Einschränkungen und dem Shutdown begonnen worden. „Momentum“ ist also beileibe kein Schnellschuss, sondern ein sorgsam austariertes Psychogramm eines Politikerehepaares. Jedes Wort und jede Geste stimmen. Man merkt, dass daran lange gearbeitet und geprobt wurde.  

In den Hauptrollen zeigen Ivana Langmajer (als Ebba Hofmann) und Jürgen Lorenzen (als Meinrad Hofmann) ihre besten Seiten. Beeindruckend! So souverän und präsent hat man die beiden noch nicht agieren gesehen. Eine überzeugende große Schauspielerleistung.  

Die beiden wurden assistiert von Markus Hennes, Rosana Cleve und Florian Bender, die ebenfalls alle Register zogen. Alle schienen hungrig danach wieder auf der Bühne stehen zu dürfen. Wieder einmal überzeugte das Wolfgang Borchert Theater mit seinem spielfreudigen Ensemble.

Foto F. IvenRosana Cleve hat zu einer überzeugenden Form gefunden, so klar aber angestrengt manch ihrer früheren Rollen erschienen waren, als Inkarnation des ungeborenen Kindes von Ebba Hofmann weiß sie den Zuschauer voll gefangen zu nehmen. Ihre Darstellung ist wunderbar einfühlsam, weich und verletzlich. Man spürt ihren Schmerz.  

Das Bild muss stimmen, koste es was es wolle. In der Politik gilt die Devise: Jammern gilt es nicht. Das muss Regierungschef und Parteivorsitzende Meinrad Hofmann nun am eigenen Leibe erfahren, denn er hat die Faxen dicke.

Nachdem er offenbar seine Ideale verraten hat und die Partei mit ihm unzufrieden ist, möchte er am liebsten hinwerfen, abhauen und sich verkriechen. Heimlich schluckt er Antidepressiva, weil er die innere Zerrissenheit einfach nicht mehr aushält. Doch weder sein Spin Doctor Dieter Seeger noch seine Ehefrau Edda wollen zulassen, dass Meinrad aufgibt. Zu viel steht auch für sie auf dem Spiel. Die Show muss weitergehen. Das hat unübersehbare  Ähnlichkeiten mit Politikerpaaren wie Bill und Hillary Clinton und anderen. Macht ist eine Droge. Die will so schnell niemand wieder loslassen, koste es was es wolle.  

Foto F. IvenEdda hat sich an das Leben im Rampenlicht gewöhnt und liebt es als Strippenzieherin die Geschicke des Landes mitzubestimmen. Dieter Seeger hat Angst, seinen lukrativen Job zu verlieren und drängt Meinrad Hofmann, sich am Riemen zu reißen. Zudem möchte er weiter in der Nähe von Edda sein, die er nach einer früheren Affäre immer noch abgöttisch zu lieben scheint. Eine überaus explosive Gemengelage tut sich wie der Krater eines Vulkans auf, die schnurstracks auf eine Tragödie hinausläuft.  

Die Fünfzig-Jahr-Feier der Partei soll das Blatt wenden, aber nicht er, sondern seine Frau Ebba soll eine Rede halten. Aber auch ihr sind die Ideale abhanden gekommen, der Glaube daran das Richtige zu tun, wenn sie ihren Mann unterstützt. Zweifel brechen sich Bahn, ob alles wofür sie jahrzehntelang gemeinsam gekämpft haben nur eine Wahnvorstellung war. Und wo bleibt eigentlich Ebbas eigenes Leben, ihre Wünsche und Träume?  

Foto F. IvenPermanent bringt sie die Erinnerung an ihre Fehlgeburt aus dem Gleichgewicht. Ihr Gewissen regt sich, ihre Machtbesessenheit wird in Frage gestellt. Das Paar steht am Ende vor einem Abgrund.  

Erst als Edda mit einer Überdosis an Tabletten und Alkohol ins Koma fällt und im Krankenhaus landet, wo man um ihr Leben bangt, kommt es zu einer Art Katharsis. Meinrad besinnt sich, aber auch Edda will nach ihrer Genesung nach der Macht greifen. Das Ende bleibt offen, wer wem zur Macht verhilft und wie die beiden sich zusammenraufen. Eine harmonische und für beide lebbare Lösung liegt in weiter Ferne. Die Hölle geht weiter.  

„Momentum“ bietet einen brutalen, schonungslosen Blick „hinter die Kulissen der Macht und ein sehr persönlicher Blick auf die Menschen, die diese Macht haben, mit all ihren Ängsten, Unsicherheiten und Zweifeln", heißt es zutreffend in der Programmankündigung. Dem ist nichts hinzuzufügen. Sehenswert!

 

Wolfgang Borchert Theater, Am Mittelhafen 10, 48155 Münster

Tickets-Telefon: 0251/40019

www.wolfgang-borchert-theater.de