Regensburg - (ots) - Amerika droht in den Modus einer Dauerkrise zu geraten.
Es bekommt die
Covid-19-Pandemie nicht unter Kontrolle, die bereits mehr als 100 000
Menschenleben gefordert hat. Mit über 40 Millionen Arbeitslosen haben
die wirtschaftlichen Probleme erst angefangen. Und die Massenproteste in
Amerikas Städten nach dem Tod des Schwarzen George Floyd werden von
einer so tief sitzenden Wut über strukturellen Rassismus angetrieben,
dass kein schnelles Ende zu erwarten ist.
Eine Pandemie wie 1918, Unruhen wie 1968 und Wirtschaftsprobleme wie
2008 - so viele Krisenherde auf einmal brannten noch nie in den USA. Und
nie zuvor gab es so wenig Führung aus dem Weißen Haus.
In diese Lücke
stößt Joe Biden, der kurz davor steht, die Nominierung seiner Partei
auch formal im Sack zu haben.
Mit einer Art "Rede an die Nation" aus dem Rathaus von Philadelphia ließ
Biden die Amerikaner spüren, wie man eine Nation in Aufruhr
zusammenbringen kann. Mit ruhiger Hand nahm der 77-Jährige die
Schutzmaske vor seinem Gesicht ab. "Ich kann nicht atmen", sagte er mit
entschlossenem Blick in die Kamera und erinnerte daran, dass dies die
letzten Worte George Floyds waren. Dann schlägt er eine assoziative
Brücke zwischen dem Covid-19-Erreger, der den Opfern die Luft nimmt, und
der Pandemie des Hasses. "Ich kann nicht atmen", sei das, was Millionen
Amerikaner nicht in ihren letzten Momenten, sondern in ihrem Alltag
erlebten. Es sei Zeit darauf zu hören.
So klingen die Worte eines
Präsidenten, der die Nation angesichts einer historisch beispiellosen
Doppelkrise tröstet, aufbaut und führt. Doch sie kommen nicht aus dem
Mund des Amtsinhabers, sondern seines Herausforderers.
Trump ist nicht
nur abwesend, sondern gießt Öl ins Feuer. Er macht das lebensrettende
Tragen von Masken während der Pandemie zu einem Politikum und droht, das
Militär gegen Amerikaner einzusetzen, die grundlegende Veränderungen im
Land verlangen. Als wären Andersdenkende Feinde. Den letzten Funken an
moralischer Autorität verlor der Präsident, als er friedliche
Demonstranten mit Gummigeschossen und Tränengas vertreiben ließ, um für
ein Foto mit Bibel vor der St. John's Kirche posieren zu können.
Zurück bleibt ein Vakuum, das gefüllt werden muss. Diese Erkenntnis
dämmerte auch im Beraterkreis des designierten
Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. Zum Beispiel Senator Chris
Coons aus Bidens Heimatstaat Delaware, der den Stellvertreter des ersten
schwarzen Präsidenten im Weißen Haus einzigartig auf diesen Moment
vorbereitet sieht. Coons wünscht sich deshalb, mehr von Biden in der
Öffentlichkeit zu sehen. Zum Beispiel in Minneapolis, dem Epizentrum der
Bürgerrechts-Proteste, wo Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten
einen qualvollen Foltertod starb. Sicher ist, dass Biden auf Einladung
der Familie am Dienstag nach Houston reisen wird, um an der Beerdigung
teilzunehmen. Eine unübersehbare Geste, die einen Kontrast zu dem
Amtsinhaber schafft, der lieber darüber faselt, Demonstranten zu
"dominieren" als Anteilnahme zu zeigen.
Diese Unfähigkeit zur Empathie kann Biden für sich nutzen. Und er tat
es, als er in den vergangenen Tagen vorsichtig aus der Quarantäne
auftauchte.
Doch mit Reden allein ist es vor allem für die jungen
Aktivisten nicht getan. Sie erwarten mehr von dem Mann, dessen
Kandidatur die Afroamerikaner mit dem politischen Wunder am
Superdienstag rettete. Jetzt sei es an ihm, dem schwarzen Amerika in der
Doppelkrise aus Pandemie und Polizeigewalt zu helfen. Seine Strategen
erkennen, dass er sich in diesem Moment nicht als Präsident des
"Übergangs" verkaufen kann, sondern einer, der grundlegende Reformen
anbietet.
Biden scheint zu verstehen, dass er die Stimmung auf der Straße aufnehmen und für Veränderungen nutzen muss. Deshalb kehrte er nicht als Kandidat, sondern als Schattenpräsident ins öffentliche Leben zurück.
Artikel von Thomas Spang