Bühl - (ots) - * Quarantänen, Isolation und Kontaktbeschränkungen haben massive und langfristige Auswirkungen auf die seelische Gesundheit in Deutschland.
* Die Distanzierungsmaßnahmen sind ein erheblicher Risikofaktor für die Entstehung psychosomatischer und psychiatrischer Erkrankungen.
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Dr. Christian Graz, Chefarzt der Psychosomatik der Max Grundig Klinik,
erwartet eine Welle psychisch erkrankter Patienten auf den
Gesundheitssektor zurollen.
Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wie Isolation, Quarantänen und Kontaktbeschränkungen verursachen psychische Belastungen und Erkrankungen, die die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland massiv negativ beeinflussen werden. Diese Dimension, so Dr. Christian Graz, Chefarzt Psychosomatik der Max Grundig Klinik, wurde bislang viel zu wenig beleuchtet.
Dr. Christian Graz erwartet gravierende Langzeitfolgen, die weit über den Stress durch Homeoffice, Homeschooling und finanzielle Verlustängste hinausgehen: "Politik und Gesellschaft haben sich richtigerweise auf die Viruseindämmung und die Abmilderung der ökonomischen Folgen des Shutdown konzentriert."
In der Gesamtbetrachtung müssen wir aber auch
berücksichtigt, so Dr. Christian Graz, "dass Menschen unter psychischen
Störungen in einem Ausmaß leiden, wie sie in Deutschland bislang
unbekannt sind. Unser Gesundheitssystem hat auf Covid-19 umgerüstet, auf
die Bekämpfung der psychologischen Kollateralschäden aber bislang noch
nicht." Hier rollt eine Welle von Erkrankten auf Therapeuten,
Psychologen und Psychiater zu. Die 12-Monats-Prävalenz für psychische
Erkrankungen wird durch die Corona-Pandemie sehr deutlich ansteigen. Dr.
Christian Graz schätzt: "Prävalenz und Kosten, die im Gesundheitswesen
unmittelbar aufgrund zusätzlicher psychischer Störungen entstehen,
könnten sich gegebenenfalls verdoppeln."
Die ambulante und stationäre Versorgungssituation bei psychischen Erkrankungen ist hierauf nicht oder nur unzureichend vorbereitet. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz waren schon vor der Corona-Krise oft sehr lange und betrugen zwischen über drei Monaten bis zu einem Jahr.
Bereits ohne Corona-Krise fanden sich in den vergangenen Jahren unten den häufigsten Ursachen für verlorene Lebensjahre depressive Erkrankungen, Selbstverletzungen und Störungen in Zusammenhang mit Drogenkonsum. Schon heute belaufen sich die Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen inklusive indirekter Kosten wie beispielsweise Produktivitätseinbußen in der Europäischen Union auf mehr als 450 Milliarden Euro pro Jahr. Auch die wirtschaftlichen Folgekosten der steigenden psychischen Erkrankungen werden sich in erheblichem Maße in den kommenden Monaten und Jahren niederschlagen, trotz der Lockerungen der vergangenen Wochen.
Hier nur eine Auswahl an psychischen Kollateralschäden der aktuellen Pandemiebekämpfung:
- Menschen in Alten- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern erleben durch Isolation undextreme Kontaktbeschränkungen Stresssituationen, die für viele Risikogruppen weiterandauern. Täglich sterben in Deutschland zahlreiche Menschen in Einsamkeit. Nicht nur die Betroffenen selbst, auch Angehörige nehmen dabei psychischen Schaden, wenn Kontakte nur sehr eingeschränkt gestattet sind und sie engste Verwandte nicht mehr angemessen betreuen können.
- Longitudinal-Studien zur Frage, was Gesundheit und ein langes Leben fördern, zeigen: Der bei weitem wichtigste Prädiktor für Wohlbefinden und Gesundheit sind stabile soziale Kontakte wie auch ausreichend Bewegung. Erst danach folgen Nikotin- und Alkoholkarenz und weitere Risikofaktoren. Distanzierungsmaßnahmen implizieren damit große Risiken für die Entstehung psychosomatischer und psychiatrischer Erkrankungen.
- Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DDPPN) geht nach Studienlage davon aus, dass bis zu 30 Prozent (ca. 18 Mio. Personen) der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland jährlich die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen, dabei sind besonders jüngere Menschen mit eher niedrigem sozio-ökonomischen Status, die in Großstädten leben, betroffen. Diese Anzahl dürfte im laufenden Jahr vor dem Hintergrund der Maßnahmen sowie den ökonomischen Folgen des Lockdowns drastisch zunehmen. Gerade für Menschen, die unter depressiv-ängstlichen Symptomen leiden, bedeutet die Pandemie immense Belastungen. Arbeitsplatzverlust, existenzielle Sorgen und Spannungen in Partnerschaft werden hier zu deutlich erhöhten Fallzahlen an psychischen Störungen führen.
- Die Corona-Krise wird auch zu einer erhöhten Suizidrate in Deutschland führen. 2017 (die Zahlen 2018 werden im Sommer 2020 veröffentlicht) begingen etwa 9.500 Menschen in Deutschland Selbstmord. Die Zahl sank seit 1980 (20.000 Suizide) kontinuierlich. Männer (13.5 von 100.000) sind gefährdeter als Frauen (6 von 100.000). Dieser Trend dürfte sich 2020 und vermutlich auch 2021 umkehren. Auch im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 verzeichneten die Statistiken einen Anstieg in Deutschland, wie im Übrigen in weiteren 54 Ländern weltweit.
- Einer aktuellen Untersuchung zufolge ist die Zahl der Suizide nach der großen Finanzkrise besonders signifikant unter jungen Männern gestiegen - in Europa unter Männern zwischen 14 und 24 Jahren und in den USA unter Männern zwischen 45 und 64 Jahren. Die mit der Studie befassten Wissenschaftler von den Universitäten Hong Kong, Oxford und Bristol setzen den Anstieg in einen direkten kausalen Zusammenhang mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit in den betroffenen Regionen.
- Die Zahlen belegen, dass Menschen in einer Wirtschaftskrise mit extremen emotionalen Situationen zu kämpfen haben. Auf jeden Suizid kommen den Angaben zufolge etwa 30 bis 40 Suizidversuche, wiederum auf jeden Suizidversuch etwa zehn Menschen, die ernsthaft eine Selbsttötung erwägen.
- Neben affektiven Störungen (Depressionen) und Angsterkrankungen ist insbesondere eine steigende Prävalenz von Störungen durch psychotrope Substanzen (riskanter und schädlicher Gebrauch von Drogen und Alkohol) wie auch nicht-stoffgebundene Suchterkrankungen wie pathologisches Glücksspiel oder Computersucht sicher zu erwarten.
- Eine Folge sind auch zunehmende Herz-Kreislauf-Krankheiten. In unserer Klinik werden immer mehr Fälle mit kardiovaskulärer Somatisierungstendenz beobachtet, die wiederum das Risiko für die Entwicklung eines Herzinfarktes erheblich erhöhen.
- Ebenfalls ein Problem: Teenager befinden sich in der sensiblen Umbruchphase vom Kind zum jungen Erwachsenen. Sie entdecken ihren Körper, sind neugierig auf erste Intimbeziehungen. Bleiben die aktuellen Social Distancing Maßnahmen noch lange aufrecht, bekommen wir eine ganze Generation von jungen Menschen, die in dem Bewusstsein aufwächst, Umarmungen, Zärtlichkeiten etc. sind gesundheitlich bedrohlich.
Diese Auflistung umfasst nur einen Teil der Herausforderungen. Zur Bewältigung der Corona-Krise wird es also auch gehören, die ambulante und stationäre Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen besser zu gewährleisten. "In Anbetracht der hohen Zahl komorbider somatischer Erkrankungen bei psychischen Störungen sowie eines deutlich erhöhten Risikos für psychische Störungen bei chronisch verlaufenden somatischen Krankheiten ist zudem eine bessere interdisziplinäre Vernetzung dringend erforderlich und wichtiger denn je," erläutert Dr. Christian Graz abschließend.