Mit dem Gleis 22 verbindet Thorsten Nagelschmidt eine lange Vergangenheit. Als Sänger der Band Muff Potter hat „Nagel“ hier regelmäßig Münsters Musikbegeisterte beschallt, schon in den Neunzigern brachte er im Gleis die Bühne zum Beben. Den „guten alten Freund“ (wie es im Ankündigungstext heißt) hat der Club daher eingeladen, um am Freitagabend die zweite Runde der Veranstaltungsreihe „Digital ist besser als nichts“ im Live-Stream zu bestreiten. Eine Autorenlesung, denn Nagelschmidt ist längst nicht mehr nur Musiker. In diesem Jahr hat er mit dem Roman „Arbeit“ bereits sein fünftes Buch vorgelegt.
Der Stream begann um 20:00 Uhr. Nach ein wenig DJ-Musik und einem Einspieler vom Münsteraner Poetry-Slammer Peter Panisch kamen Nagelschmidt und Jan Brandt auf die Bühne. Hier machten sie es sich vor einer Topfpflanzen-Kulisse auf 70er-Jahre-Sesseln bequem.
Brandt, selbst Schriftsteller, führte durch den Abend. Da er und Nagelschmidt sich persönlich kennen und beide eine Verbindung zum Gleis 22 haben, entwickelte sich ein mit Anekdoten gespicktes Interview. Begleitend zeigte man alte Fotos. Auf einem Exkurs in den Backstage-Raum präsentierte Nagelschmidt ein Graffiti aus Muff-Potter-Zeiten und gab amüsante Erinnerungen preis.
Schließlich ging es auch um „Arbeit“, Nagelschmidts neuesten Roman. Darin folgt der Autor im nächtlichen Berlin allerlei Menschen, die im Schatten von oder hinter den Kulissen der Partyexzesse ihren Job machen. Das Buch zeigt, wie Brandt es ausdrückte, „den ganz alltäglichen Wahnsinn“. Statt nur die feierwütige Hauptstadtmeute zu beleuchten, erzähle es „die Geschichten derjenigen, die den ganzen Laden am Laufen halten“.
Gemeinsam lasen Nagelschmidt und Brandt einen Auszug, in dem Drogendealer Felix mit seinem Kunden Peppi dessen Wohnung begutachtet. Dem Dealer offenbart sich ein verwahrlostes Loch, doch fühlt er sich widerwillig verantwortlich für den drogenabhängigen Peppi, welcher sich wiederum, beschämt und nervös, in Rechtfertigungsversuchen ergeht. Die Prosa des Buchs ist geradlinig und mit Slang durchsetzt; Nagelschmidt schreibt schnörkellos und präsentiert unverblümt.
Vom Verlag S. Fischer wird „Arbeit“ als „großer Gesellschaftsroman“ beworben. In diesem Sinne reihte Jan Brandt Nagelschmidts Buch am Freitagabend in eine literarische Tradition: Das ungeschminkte, pulsierende Hauptstadtleben aus Döblins „Berlin Alexanderplatz“, die kaleidoskopische Erzählweise von Modernisten wie John Dos Passos in „Manhattan Transfer“.
Tatsächlich verfestigte sich im Autorengespräch vor allem
ein Eindruck: Dass es Nagelschmidt ganz konkret um die Menschen im Chaos der
Nacht geht, um ihre eigenen Erfahrungsräume, ihre inneren Gefühlswelten. Verschiedene
Rezensionen lobten seine intensive Recherche zu den im Roman behandelten
Berufsgruppen. In einem in den Live-Stream durchgestellten Telefonanruf fragte
eine Zuschauerin, wie die Recherche zum Buch Nagelschmidts Blick auf Arbeit
verändert habe. Seine Antwort: Viele Menschen seien nicht nur erfüllt von dem
Streben, etwas Sinnvolles zu tun, sondern fühlten auch oftmals eine Art
Verantwortungsbewusstsein für ihr Klientel.
Titelfoto: Nagelschmidt und Brandt lasen am Freitagabend gemeinsam einen Auszug aus dem Roman "Arbeit". (© Martin Schröter)