Mord am Berliner Chefarzt Fritz von Weizsäcker als "Selbstjustiz": Wegen der tödlichen Messerattacke auf den Sohn des Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ist der Angeklagte zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden.
"Es wurde letztlich Selbstjustiz geübt", sagte der Vorsitzende Richter Matthias Schertz bei der Urteilsbegründung. S. gab für den Angriff vom 19. November 2019 jahrelangen Hass auf Richard von Weizsäcker an. Der 57-Jährige bezichtigte ihn, mitverantwortlich an der Produktion des Entlaubungsmittels Agent Orange zu sein. US-Truppen hatten im Vietnamkrieg Millionen Liter Agent Orange im Süden von Vietnam versprüht. Das Gift wird bis heute für schwere Missbildungen, Krebserkrankungen und Behinderungen bei der vietnamesischen Bevölkerung verantwortlich gemacht.
Ein Artikel im Magazin "Spiegel" aus dem Jahr 1991 führte demnach dazu, dass S. in Richard von Weizsäcker einen Mitschuldigen sah. "Das schlägt im Laufe der Jahre in regelrechten Hass um", sagte der Vorsitzende Richter. Dabei sei S. selbst nicht betroffen. Der Angeklagte hatte sich im Prozess mehrfach als vom Vietnamkrieg "traumatisiert" bezeichnet. 2001 versuchte er der Urteilsbegründung zufolge bereits schon einmal, bei einer Veranstaltung einen Säureanschlag auf Richard von Weizsäcker zu begehen, der allerdings fehlschlug.
Im Sinne der Selbstjustiz und einer angenommenen Kollektivschuld von Weizsäckers nahm S. daraufhin die Familie des 2015 gestorbenen Ex-Bundespräsidenten ins Visier. Auf den Vortrag des späteren Opfers stieß S. im Sommer 2019; einen Tag vorher kaufte er sich ein Klappmesser und fuhr am Tattag von Koblenz nach Berlin.
Bei dem Vortrag war der Arzt "völlig arg- und wehrlos", weshalb das Mordmerkmal der Heimtücke nach Ansicht der Kammer erfüllt war. Auch beging S., den der Richter als "Einzelgänger" beschrieb, die Tat demnach aus niederen Beweggründen.
Bei der Tat war ein Polizeibeamter eingeschritten, der privat unter den Zuhörern war. Auf ihn stach S. ebenfalls ein. S. wurde wegen Mordes an von Weizsäcker sowie wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung an dem Polizeibeamten verurteilt. Der psychiatrische Gutachter Alexander Böhle hatte ihm in seinem Gutachten eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung und deswegen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bescheinigt.
Zum Charakter von S. führte Schertz unter Bezug auf den Gerichtsprozess "fast eine unerträgliche Rechthaberei" an. Der Angeklagte hatte andere während der Verhandlung immer wieder unterbrochen und darauf gepocht, er habe seine Tat aus politischer Motivation und nicht wegen seiner psychischen Erkrankung heraus begangen. Die Entscheidung zur Unterbringung in einer Psychiatrie begründete Schertz damit, dass S. "überhaupt nicht krankheitseinsichtig" sei. Er stelle weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
Das hatte S. am Mittwoch erneut vehement zurückgewiesen - seine Tatenergie sei danach "verpufft", beteuerte er. "Dann ist der Drops gelutscht", waren seine letzten, offenbar resignierten Worte.
Der Prozess war zuvor unterbrochen worden, weil S. einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Schertz gestellt hatte. Der Antrag wurde als unzulässig verworfen. Ein weiterer Befangenheitsantrag gegen den psychiatrischen Gutachter Böhle wurde als unbegründet zurückgewiesen.
Die Staatsanwaltschaft hatte 14 Jahre Haft gefordert. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. S.will laut seiner Verteidigung Revision einlegen.
sae/chaSarah EMMINGHAUS / © Agence France-Presse