(Tobias
Hachmann) Am 13.09.20 kandidieren in Hamm auch zwei parteilose
Bewerber für das Amt des Bürgermeisters. Einer von ihnen ist Gerd Heistermann –
Kommunikationstrainer, Coach für Potentialentfaltung und ehemaliger
Chefredakteur von Radio Lippewelle Hamm. Für seine
Antworten auf unsere sechs Fragern sind wir sehr dankbar!
1.
Frage:
Auf welche Weise soll dem Einzelhandel, der Gastronomie und
freischaffenden Künstlern zwecks Entschädigung für die
Corona-Einschränkungen unter die Arme gegriffen werden?
Heistermann:
Subventionsmaßnahmen werden nicht reichen und leer laufen, wenn die
Menschen nicht zusammenkommen dürfen oder können. Oder wollen, wenn
sie lieber online arbeiten, Handel treiben, einkaufen und sich bilden
bzw. unterhalten lassen. Wenn alle Bedürfnisse, die zu
Stadtgründungen geführt haben, online gelebt werden, ist die
Lebensform Stadt überflüssig.
Deshalb sind Mentalitäten wichtiger als Maßnahmen, also unser Selbstverständnis, wer wir sein und wofür wir leben wollen. Für mich macht die Entfaltung unserer Potenziale Sinn, der ganz individuell gelebt werden kann. Sie gelingt, wenn wir anfangen, einander auf Augenhöhe als Subjekte zu begegnen, wo jeder auf seine Art richtig ist und zugleich anders sein darf, wenn er das auch allen anderen zubilligt. Wenn wir nichts mehr miteinander anfangen können oder wollen, wird „Stadt“ sterben. Wir können uns entscheiden.
Konkret
braucht es einen Fond, der diese städtische Infrastruktur erhält,
weil sie die Gelegenheiten für menschliche Begegnungen bietet.
Möglicherweise werden die Genannten sich gegenseitig ergänzen z.B.
mit einer regelmäßigen kleinen Performance, die uns neben dem
Kaufen und Essen zum Nachfühlen und -denken anregt und so zum
zwischenmenschlichen Austausch führt derjenigen, die noch analog und
mit allen Sinn(en) leben wollen.
2.
Frage: Welchen Kurs zwischen Einschränkungen und Lockerungen
befürworten Sie bezüglich der Corona-Krise?
Heistermann: Je
nach Situation flexibel und transparent. Es gilt vor allem die
besonders infektiösen Situationen zu vermeiden, wo Menschen sich in
ungelüfteten Räumen aus nächster Nähe anbrüllen z.B. beim sog.
„Party machen“. Hier sind Achtsamkeit und Respekt gefragt. Gerne
würde ich von den Ärzten wissen, wie wir auch unsere Immunabwehr
stärken können als einen Mosaikstein im Umgang mit dem Virus und
andere kluge Leute, wie wir gut mit der Unsicherheit umgehen können,
die uns sicher erhalten bleiben wird.
3.
Frage: Laut Ihrer Website wollen Sie die Potentialentfaltung des
Einzelnen und die Ideen der Bürger im Allgemeinen wesentlich stärker
zur Quelle politischer Entscheidungen machen – unter anderem durch
sogenannte Bürgerräte. Wie stellen Sie sich das in der praktischen
Umsetzung vor? Wäre es dafür notwendig, dass die Mechanismen der
Bezirksvertretungen und/ oder des Rathauses in Hamm komplett anders
gestaltet werden als in anderen Kommunen von NRW?
Heistermann:
Die
Bürgerräte ergänzen die Bezirksvertretungen und den Rat als eine
„vierte Gewalt“ und ersetzen sie nicht. Allerdings sind diese
aufgefordert, sich mit den Ergebnissen der Bürgerräte zu
beschäftigen bzw. sie zu ihren Sitzungen einzuladen. BR schützen
z.B. davor, dass einseitige gut organisierte Interessenträger wie
z.B. privatwirtschaftliche Investoren Schlüsselentscheidungen für
sich beanspruchen oder das nur die sog. Aktivbürger, die „üblichen
Verdächtigen“ zu Wort und Macht kommen. Der BR besteht aus einer
Zufallsauswahl von Menschen unterschiedlichen Alters, Bildungsgrade
und Herkunft. Als Chefredakteur der Lippewelle habe ich mich Anfang
2015 während der Flüchtlingskrise zweimal getraut, wildfremde
Menschen in die Redaktion einzuladen und „in der familiären
Atmosphäre der LW über das zu sprechen, was Sie aufwühlt“. Da
saß der Pegida-Sympathisant neben dem Sozialarbeiter und
Flüchtlingshelfer. Jeder erzählte von sich, was er erlebt hat und
wie es ihm damit geht. Und alle hörten einander zu. Wobei
Verständnis nicht immer Einverständnis war, aber keiner hat den
anderen angegriffen oder runtergemacht. Das Verstehen wollen hat die
Menschen miteinander verbunden!
4.
Frage: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Probleme, denen sich
der Rat nach der Wahl stellen muss?
Heistermann: Wir
schieben eine Welle an Insolvenzen, Arbeitslosen und Steuerausfällen
vor uns her, die erst nach der Wahl sichtbar werden wird. Viele
millionenschwere Baumaßnahmen, die uns jetzt noch begeistern, könnte
das zu Makulatur machen. Wird uns das noch ängstlicher, reizbarer
und aggressiver machen? Und das in einer Zeit, in der wir für viele
große Herausforderungen neue Lösungen finden müssen. Doch kann uns
das im Gegeneinander gelingen? Deshalb braucht es neben einem
Grundeinkommen zur Existenzsicherung eine kollektive Vision, in der
jeder auf seine Art willkommen ist und eingeladen ist, sie zu im
Zusammenspiel zu entfalten. Nicht gnadenlose Konkurrenz sondern
kreative Kooperation hat die Evolution des Menschen möglich
gemacht.
5.
Frage: Wie wollen Sie Hamm zukunftsfähig machen (Stichworte Energie,
Wohnen, Mobilität)?
Heistermann: Da
machen SPD und Grüne gute Vorschläge, vergessen aber das
Wichtigste: dass bereits vor Corona 27 Prozent der Arbeitsplätze in
Hamm substituierbar waren durch digitale Prozesse. Noch lernen wir in
den Schulen vor allem das, was man professionell nach Anweisung
abarbeiten kann. Doch auch die mentalen Routinearbeiten sind
programmierbar. Weniger dagegen Kreativität, Einfühlungsvermögen
und visionäres Denken. Grundlage für diese Metakompetenzen ist,
dass uns etwas wirklich interessiert und nahegeht. Und das kann kein
Lehrer anweisen. Wohl aber durch klassischen Unterricht, wo alle zur
gleichen Zeit beim gleichen Lehrer das gleiche Thema auf die gleiche
Art mit dem gleichen richtigen Ergebnis bearbeiten sollen.
In
der künftigen Arbeitswelt werden sich die Menschen immer wieder neu
und umlernen und sich selber etwas beibringen müssen. Die einzigen,
die dann noch Arbeit finden, sind Leute, die Freunde an ihrer
Tätigkeit haben. Ohne eine grundsätzliche Neugier aufs Leben, die
Menschen und die Welt wird das kaum gelingen. Hier ist die
Gesellschaft noch im Tiefschlaf und versaut einer ganzen Generation
die Zukunft!
In
jeder Schule gibt es deshalb für jedes Kind mindestens einen Lehrer
oder Mentor, der an das Kind glaubt und ihm vertraut und in der Lage
ist, das Talent des Kindes herauszufinden. Jedes Kind soll von sich
sagen können: „Ich kann etwas und ich bin jemand“ – unabhängig
von den Schulfächern. Grundschulkindern aus Zuwandererfamilien wird
ein sog. Buchpate angeboten, der sich mit ihnen einmal pro Woche
trifft, um zu lesen und über das Gelesene zu sprechen. Ich selbst
bin Buchpate einer 4. Klasse an der Ludgerischule im Hammer
Norden.
6. Frage:
Welche Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach für die Förderung der
Familie notwendig?
Heistermann: Wenn
es um Ehe und Familie geht, schauen wir zu oft weg. Eine glückliche
Ehe ist kein Automatismus und die Liebe kein Selbstläufer. Unter dem
Druck vieler äußerer Faktoren wird sie oft sprachlos. Deshalb
braucht es regelmäßig Angebote, wo Paare einander wieder bewusst
wahrnehmen und zuhören können. Vielleicht sind Familienzentren mit
„Vätertreffs“ und „Ehe-Rendezvous“ für alle Interessierten
da Gelegenheiten, damit Beziehungen wieder gelingen.
Kinder
brauchen Spielplätze, wo sie nicht mehr nur vorgefertigte Abläufe
konsumieren und nur die immer gleichen Bewegungen abspulen können.
Ich möchte den Kindern noch mehr Spielraum bieten mit Spielplätzen,
die ihnen viele Mitgestaltungsmöglichkeiten anbieten. Das kann
geschehen mit veränderbaren Materialien, die die Kinder selbst
zusammenstellen und variieren können. Die Plätze werden so zu
gestaltbaren Orten, wo die Kinder sich nicht als Konsumenten, sondern
als Erschaffer, kleine Architekten und Baumeister erleben.
Alle
Kitas bieten zur Eingewöhnung der Kleinsten das „Berliner Modell“
an, wo das Kind nicht einfach abgegeben wird, sondern der Übergang
6-8 Wochen dauern darf, um zu starke Brüche zu verhindern. In
offenen Gesprächen berichten die Fachkräfte in Kindergärten davon,
dass rund 40 Prozent aller Kinder in ihren Einrichtungen durch ihr
Verhalten auffallen und einen echten Förderbedarf entwickeln.
Deshalb sollte in jeder Kindertagesstätte zumindest eine
heilpädagogische Fachkraft tätig sein.
Stadt4.0
bedankt sich bei Gerd Heistermann herzlich für die Antworten und
wünscht ihr alles Gute für die Kommunalwahl!
Tobias
Hachmann