BPA: Die Staatskapelle Berlin feiert ihr 450-jähriges Bestehen und sie begeht dieses Jubiläum auf die einzige Art, die dem Ereignis angemessen ist: als Ensemble und mit einem Festkonzert. Ich bin dankbar dafür, dass die Staatsoper diesen Abend möglich gemacht hat – auch unter den Bedingungen, die uns die Pandemie diktiert.
Es war immer schon ein Vorzug, diesem Orchester unter Daniel Barenboim zuhören zu dürfen. Heute Abend empfinde ich es als ein besonderes Privileg und ich hoffe, Sie sehen dem Festredner nach, das Ereignis, auf das Sie alle warten, noch um einige wenige Minuten hinauszuzögern.
Doch bevor ich damit beginne, die Staatskapelle als Orchester und Daniel Barenboim als ihren Leiter zu loben, lassen sie mich einen Gedanken zur Geschichte dieses Hauses mit Ihnen teilen. Er beginnt mit einer Frage: Gibt es eigentlich eine vergleichbare Institution, ein vergleichbares Opernhaus in Deutschland? In Europa?
Es gibt bedeutende und frühere Orchestergründungen, die Sächsische Staatskapelle Dresden ist ein paar Jahrzehnte älter, auch das Staatsorchester Kassel. Die Geschichte der Staatskapelle Berlin aber ist einzigartig. Und ich meine damit nicht, jedenfalls nicht nur die Bedeutung des Orchesters und der Staatsoper als Wirkungsstätte großer Musiker und Dirigenten, auch nicht die Zahl der Uraufführungen herausragender Werke der deutschen und europäischen Musikgeschichte. Ich meine die Bedeutung und den Einfluss der Institution in ihrer Zeit, in den 450 Jahren ihres Bestehens.
Die Staatsoper, das Orchester, seine Dirigenten, seine gefeierten Aufführungen – keine vergleichbare Institution in Deutschland ist so eng verwoben mit der Geschichte dieses Landes.
Zum 450. Geburtstag des Orchesters wurden die Musiker der Staatskapelle gefragt, bei welcher historischen Aufführung sie gern dabei gewesen wären. Sie finden ihre Antworten auf der Webseite der Staatsoper. Wer sie liest, dem wird klar, welch ungeheure Zeitspanne 450 Jahre sind; dem wird klar, dass die Geschichte dieses Landes die Geschicke des Orchester bestimmt hat und dass bedeutende Kapitel deutscher Musikgeschichte hier an diesem Ort von diesem Orchester mitgeschrieben wurden.
Nehmen wir Felix Mendelssohn Bartholdy. Gleich mehrere Musiker des Orchesters nannten die Wiederaufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach unter der Leitung von Mendelssohn als das historische Ereignis, bei dem sie gern dabei gewesen wären. Mendelssohn hatte 1829 mit dieser Aufführung an Bach erinnert und – nach fast einem Jahrhundert, in dem dieser kaum mehr aufgeführt worden war – die Bach-Renaissance des 19. Jahrhunderts eingeleitet.
Dafür, dass Mendelssohn nicht in Vergessenheit geriet, sorgte wiederum Wilhelm Furtwängler. Die nationalsozialistische Reichsmusikkammer hatte den Juden Mendelssohn 1933 aus dem Repertoire deutscher Orchester verbannen wollen. Doch ausgerechnet Wilhelm Furtwängler, den Göring im selben Jahr zum Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer und zum Direktor der Staatsoper ernannt hatte, setzte Mendelssohn ostentativ wieder aufs Programm. Mendelssohn wollte er sich nicht verbieten lassen. Weil er im März 1934 auch noch Paul Hindemiths Symphonie Mathis der Maler zur Uraufführung brachte, musste er zunächst von allen öffentlichen Ämtern zurücktreten, um nur wenige Monate später, im Aufruf der Kulturschaffenden, dem Führer treue Gefolgschaft zu versichern.
Ich habe diese Episode herausgegriffen, weil sie nicht nur drei Jahrhunderte deutsche Musikgeschichte von Bach über Mendelssohn bis Furtwängler verbindet, sondern weil sie deutsche Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die auch die Geschichte dieses Hauses ist, und der man nur dann gerecht wird, wenn man ihre Höhen ebenso wie ihre Abgründe vermisst. Es gilt: kein Bach ohne Mendelssohn. Und für einen kurzen, aber nicht unbedeutenden Moment galt erstaunlicherweise auch: kein Mendelssohn ohne Furtwängler. Die Brüche und Widersprüche der deutschen Geschichte sind tief eingewoben in die Geschichte dieses Orchesters.
Heute haben dieses Opernhaus und sein Orchester einen Direktor und Chefdirigenten, den ich nicht nur als einen der größten Musiker der Gegenwart schätze, sondern auch für sein fortwährendes Bemühen um Verständigung unter den Völkern des Nahen Ostens. Wie überhaupt dieses Orchester den wachen Blick auf die Welt außerhalb der Konzerthäuser gerichtet hält, sich einmischt und Verantwortung übernimmt.
Musik, sagt Daniel Barenboim, ist das Ergebnis intensiven Zuhörens. Jedes Orchestermitglied muss zuhören können: dem Komponisten, seinem Werk, den anderen Stimmen und Instrumenten im Orchester. Musik braucht offene Ohren. Eben darum geht es auch in der Politik, zumal in jenem Teil der Politik, die sich der Pflege der auswärtigen Beziehungen zu widmen hat. Deshalb, vermutlich, ist mir dieser Satz Barenboims in Erinnerung geblieben.
Ich weiß, über Musik reden zu wollen, verbietet sich in diesem Haus – jedenfalls für den Laien. Sie spricht für sich selbst, sagte Yehudi Menuhin einmal. Vorausgesetzt, man gibt ihr eine Chance. Ich verspreche, das werde ich tun.
Doch vorher sollen die Musiker der Staatskapelle einmal selbst zu Wort kommen. Sie beschreiben den Klang ihres Orchesters als dunkel wie Honig, warm und atemberaubend schön, weich und vertraut, wie ein heimatliches Gefühl, und doch so wandelbar und facettenreich, dass sein Klang sofort in verschiedenste Stimmungen, Sphären, Epochen, Länder und Kulturen entführen kann. Das ist eine kleine Zusammenstellung von Antworten verschiedener Orchestermitglieder auf die Frage, was sie hören, wenn sie gemeinsam musizieren und unter der Leitung von Daniel Barenboim zur Staatskapelle Berlin werden.
Es ist in dieser Zeit der Pandemie doppelt bitter, dass das Orchester auf große Teile seines Publikums und das Publikum auf die Staatskapelle verzichten muss. Wir alle sehnen uns danach, sorglos nebeneinander in einem Konzertsaal zu sitzen, und uns auf nichts als die Musik konzentrieren zu können. Ich bin sicher, das werden wir auch wieder.
Im 450. Jahr ihres Bestehens jedenfalls kann die Staatskapelle Berlin auf eine Geschichte zurückblicken, die andere Krisen und Katastrophen gesehen hat. Wer den Dreißigjährigen Krieg überstanden hat und nach 41 Jahren deutscher Teilung wieder zu einem Ensemble zusammengewachsen ist, dem wird auch die Corona-Pandemie keinen bleibenden Schaden zufügen.
Ich beglückwünsche das Orchester und seinen Leiter zu diesem Jubiläum und uns alle dazu, dass wir das große Glück haben, zuhören zu dürfen. Vielen Dank.
Bulletin 89-3