Thema des Tages
LG Stuttgart – Raser-Prozess: In Stuttgart hat vor dem dortigen Landgericht der Prozess gegen einen 20-Jährigen begonnen, dem zweifacher Mord mit gemeingefährlichen Mitteln vorgeworfen wird. Er soll am Steuer eines gemieteten Sportwagens in einer Tempo-50-Zone mit mehr als 160 Stundenkilometern auf eine Kreuzung zugerast, die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und gegen einen stehenden Kleinwagen geprallt sein. Bei der Kollision starben zwei Menschen, der 20-Jährige sowie ein Beifahrer blieben jedoch unverletzt. Er habe seinen Freunden imponieren wollen, wobei ihm das Schicksal anderer "völlig gleichgültig" gewesen sei, sagte die Staatsanwältin zu Prozessauftakt. Er habe den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen. Zeugen berichteten am ersten Tag, der Angeklagte habe den Sportwagen gemietet, um ein paar Fotos auf Instagram posten zu können. Die Verteidiger erklärten, sie hielten den Mordvorwurf für ungerechtfertigt. Über den Prozessbeginn berichten u.a. spiegel.de (Jan Friedmann), die FAZ (Rüdiger Soldt), die SZ (Hans Holzhaider) und focus.de (Göran Schattauer).
Hintergrund der juristischen Brisanz des Falles ist auch die Frage, inwieweit in sogenannten Raser-Fällen der für eine Verurteilung wegen Mordes erforderliche Vorsatz gegeben ist. Fehlt dieser, wäre das Verhalten wohl nur als fahrlässige Tötung zu beurteilen. Die SZ (Hans Holzhaider) schildert die rechtliche Problematik sowie die bisher ergangenen Gerichtsentscheidungen.
Rechtspolitik
Antisemitismus: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, verlangt härtere Strafen für antisemitische Straftaten. Dies sei zusätzlich zu einer Aufstockung und Weiterbildung von Polizei und Staatsanwaltschaft ein notwendiges "politisches Zeichen" im Kampf gegen Antisemitismus, so Klein im Gespräch mit dem Tsp (Christian Böhme u.a.).
Online-Tracking: Einem Bericht von netzpolitik.org (Ingo Dachwitz) zufolge plant das Bundeswirtschaftsministerium die gesetzliche Neuregelung von Online-Tracking, also der Verwendung sogenannter "Cookies", mit denen das Verhalten von Besuchern von Internetseiten ausgewertet werden kann. Das Telemediengesetz soll mehr Klarheit über ihre Verwendung schaffen sowie einen Besuch von Homepages auch ohne Datensammlung verpflichtend ermöglichen. Vor der Vorlage eines Gesetzentwurfs will das Ministerium jedoch noch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Thema abwarten, das für Anfang Oktober erwartet wird.
Berliner Enteignungs-Volksbegehren: Die Berlin-taz (Erik Peter) berichtet über ein Gutachten des Rechtsprofessors Joachim Wieland, das dieser zu der Frage erstellt hat, ob eine Enteignung privater Wohnungskonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen durch das Land Berlin rechtlich zulässig wäre. Wieland zufolge steht der Überführung in Gemeineigentum mittels Artikel 15 Grundgesetz nichts im Wege. Die zu zahlende Entschädigung für die Enteignungen könne sich am Wert der Wohnungen vor einigen Jahren orientieren und spekulative Preissteigerungen der letzten Jahre außer Acht lassen.
"Erweiterte DNA-Analyse": Im Interview mit der taz (Christian Rath) äußert sich Justizministerin Christine Lambrecht zur geplanten sogenannten "erweiterten DNA-Analyse", mit der künftig aus genetischen Tatortspuren Haar-, Augen- und Hautfarbe sowie das Alter des Täters prognostiziert werden sollen. Die Feststellung einer dunklen Hautfarbe des Täters und die Nutzung der Information zu Fahndungszwecken sei nicht stigmatisierend. Auch wüssten die Ermittler um die erhebliche Ungenauigkeit der Technik. Sie verteidigt zudem die Entscheidung, die Herkunft der Vorfahren als Merkmal nicht aufzunehmen und keinen Richtervorbehalt für die Maßnahme vorzusehen.
Klimaschutz-Pflichten: In einem Beitrag für die FAZ präsentiert Rechtsprofessor Christian Calliess Vorschläge für die rechtliche Unterstützung von Klimaschutzbemühungen. Er leitet aus der Menschenwürde und dem Grundrecht auf Leben und Gesundheit einen Anspruch eines Bürgers auf ein "ökologisches Existenzminimum" ab, das durch Folgen des Klimawandels verletzt werden könne. Daraus erwachse eine absolute Grenze jeder politischen Abwägung in Form eines Untermaßverbotes. Es verlange ein "geeignetes und wirksames, also langfristig angelegtes, in sich kohärentes und rechtsverbindliches Schutzkonzept". Calliess plädiert zudem für eine Verankerung des Klimaschutzes im Grundgesetz. Eine solche hätte "mehr als nur symbolischen Charakter".
"Clan-Kriminalität": Die Zeit (Fritz Zimmermann) berichtet über die Debatte um einen 2017 eingefügten Absatz von § 76a Strafgesetzbuch. Dieser ermöglicht es Richtern, etwa wegen des Verdachts der Geldwäsche beschlagnahmte Gegenstände einzuziehen, ohne dass dafür dem Betroffenen eine konkrete Straftat nachgewiesen werden muss. Die Vorschrift wird insbesondere zur Bekämpfung von "Clan-Kriminalität" eingesetzt. Anwaltsverbände erkennen einen Schritt zur Abschaffung der Unschuldsvermutung. Über die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift müsse Karlsruhe entscheiden, äußert Rechtsprofessor Thomas Rönnau in dem Beitrag.
Justiz
EuGH zu Kredit-Widerruf: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass ein Widerrufsrecht in einem Fernabsatz-Darlehensvertrag ausgeschlossen ist, wenn dieser vollständig erfüllt ist. Das Urteil erging nach einer Vorlage des Landgerichts Bonn, das wissen wollte, ob die deutschen Normen mit der EU-Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher vereinbar sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht ein "ewiges Widerrufsrecht", sobald ein Unternehmer beim Abschluss eines Kreditvertrags im Fernabsatz nicht ordnungsgemäß über Widerrufsrechte unterrichtet hat. Bei vollständiger Erfüllung sei die Vorschrift zum Ausschluss des Widerrufsrechts nicht auf Verbraucherdarlehensverträge anwendbar. Der EuGH entschied nun, dass diese Auslegung der EU-Richtlinie widerspricht. Das Widerrufsrecht müsse Grenzen haben und erlösche, wenn der Vertrag auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers voll erfüllt wird. Es berichten die FAZ (Marcus Jung) und lto.de.
In seinem Kommentar sieht Marcus Jung (FAZ) das Urteil als "nächsten Sargnagel in Sachen Verbraucherrechte" nach dem Urteil des EuGH zur Online-Lastschrift aus der vergangenen Woche. Es bringe den Kreditinstituten Planungssicherheit. Für Kunden hingegen gelte: "Drum prüfe wer sich bindet, ob sich nicht doch was Bess'res findet".
EuGH zu Gaspipeline: Einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zufolge darf der russische Gazprom-Konzern die durch Deutschland, in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze, verlaufende Gaspipeline Opal nicht überwiegend, sondern maximal bis zur Hälfte der Kapazität nutzen. Der EuGH hob damit eine Entscheidung der EU-Kommission auf, die Gazprom einen höheren Anteil an der Opal-Kapazität zugesprochen hatte. Bei ihrer Entscheidung hätte die Kommission weder den Grundsatz der sogenannten Energiesolidarität geprüft noch die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit Polens, so der EuGH laut SZ (Florian Hassel).
OLG Hamm zu VW-Dieselskandal: Das Oberlandesgericht Hamm hat entschieden, dass eine Kundin einen Anspruch auf Schadensersatz wegen vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung gegen VW hat, obwohl zum Zeitpunkt des Kaufvertrags bereits öffentlich über den Abgasskandal berichtet wurde. Die Käuferin habe glaubhaft gemacht, nicht davon gewusst zu haben, dass ihr Fahrzeug ebenfalls vom Abgasskandal betroffen ist, so das Gericht laut lto.de.
LG Düsseldorf zu Automatensprenger: Das Düsseldorfer Landgericht hat einen Mann zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, der mit Komplizen einen Geldautomaten aufgesprengt und dabei etwa 110.000 Euro erbeutet hat. Eine weitere Tat gleicher Art war erfolglos geblieben. Über das "Urteil mit Signalwirkung" berichtet die FAZ (Reiner Burger).
LG Frankfurt/M. zu Richter-Untreue: Das Landgericht Frankfurt/M. hat einen mittlerweile pensionierten Richter wegen Untreue zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Mann hatte insgesamt 437.000 Euro abgezweigt von Geldern, die er in einer nebenher ausgeübten Tätigkeit als Vorsitzender von Schiedsgerichten von den streitenden Parteien als Vorschusszahlungen für Verfahrenskosten und Auslagen erhalten hatte. Es berichtet lto.de.
LG Detmold zu Missbrauch in Lügde: Weder die Staatsanwaltschaft noch die zwei Verurteilten wollen Revision gegen das in der letzten Woche ergangene Urteil des Landgerichts Detmold zum langjährigen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde einlegen, meldet zeit.de.
SG Dortmund zu Scheinselbstständigkeit: community.beck.de (Markus Stoffels) stellt eine Entscheidung des Sozialgerichts Dortmund von März dieses Jahres vor. Dabei ging es um die Frage, ob eine mit einem Gewerbe angemeldete Lohnbuchhalterin gleichwohl gegebenenfalls als Arbeitnehmerin anzusehen sein kann, wenn sie für einen Pauschalbetrag für ein Unternehmen tätig ist. Dies war hier dem Gericht zufolge der Fall.
Recht in der Welt
Großbritannien – Parlaments-Pause: Das oberste schottische Gericht, der Court of Session, hat die von Premierminister Johnson auferlegte Beendigung der Sitzungsperiode des britischen Parlaments für unrechtmäßig erklärt. Der entsprechende Antrag sei "ungesetzlich, weil er den Zweck hatte, das Parlament auszuschalten", so das Gericht. Die Regierung hat Berufung angekündigt. Nun muss der britische Supreme Court über die Rechtmäßigkeit entscheiden. Über das Urteil berichten lto.de, die taz (Dominic Johnson) und die FAZ (Jochen Buchsteiner).
In einem Kommentar meint Cathrin Kahlweit (SZ), die Entscheidung sei ein schwerer Schlag für Boris Johnson. Seine Begründung für die Pause, er brauche fünf Wochen Zeit zur Vorbereitung der Regierungserklärung, sei "ein zu durchsichtiges Manöver" gewesen. Er sei als Premier untragbar.
Niederlande – Sterbehilfe-Prozess: Eine Ärztin ist von einem Gericht in Den Haag vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden, nachdem sie aktive Sterbehilfe an einer schwer demenzkranken Frau geleistet hatte. Der Prozess war das erste Strafverfahren zur aktiven Sterbehilfe nach der Legalisierung in den Niederlanden 2002. Es berichtet spiegel.de.
Türkei – Verfassungsgericht: In einem Beitrag für verfassungsblog.de begründet der Doktorand Cem Tecimer (in englischer Sprache) seine Auffassung, dass das türkische Verfassungsgericht mittlerweile erfolgreich von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Linie gebracht wurde.
Norwegen – Wahlrecht: In einem weiteren Beitrag auf verfassungsblog.de berichtet der Rechtsprofessor Eirik Holmøyvik (in englischer Sprache) von möglichen Wahlbeeinflussungen via social media und fake news vor den letzten Kommunalwahlen in Norwegen. Als Mitglied der maßgeblichen Expertenkommission zur Schaffung eines neuen Wahlrechts plädiert er unter anderem dafür, diese Themen im Gesetzgebungsprozess anzugehen.
Sonstiges
Paritätsgesetze: In einem Beitrag für die FAZ befasst sich die Rechtsprofessorin Friederike Wapler mit der Rechtmäßigkeit von Geschlechterquoten im Wahlrecht. Maßgeblicher Gesichtspunkt sei die Repräsentationsfunktion der Wahl. Dabei gehe es um politische Interessen, aber auch um einen symbolischen Anteil der Sichtbarkeit. Vor diesem Hintergrund sei es nicht angebracht, die beschlossenen Paritätsgesetze pauschal als verfassungswidrig zu verwerfen und "in den Raum des Nichtverhandelbaren zu verschieben". Sie würden jedoch die Gefahr bergen, schematische Mann-Frau Dualismen zu verfestigen statt sie durchlässiger zu machen. Die taz (Patricia Hecht) berichtet hingegen von der Entschlossenheit des Deutschen Juristinnenbundes, die Paritätsgesetze vor den Verfassungsgerichten zu verteidigen.
Hassverbrechen: In einem Beitrag für die Zeit meint der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk, dass Täter, die "Verbrechen aus der Verachtung für den Gleichheitsgedanken heraus" verüben und damit den "inneren Frieden" Deutschlands bedrohen, stärker als bisher bestraft werden müssten. Hierzulande gebe es eine Tradition der Strafmilde. Gerade eine multiethnische Gesellschaft könne langfristig aber nur funktionieren, wenn der Staat die Einhaltung ihrer grundlegenden Regeln des sozialen Miteinanders durchsetze. Es gehe darum, den Menschen die Gewissheit zu vermitteln, dass der Staat "all jene, die sich den Grundregeln unserer Gesellschaft verweigern, bestrafen wird". Dies sei eine Aufgabe für Justiz und Politik gleichermaßen.
Steuerungs-Steuerrecht: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Thomas Sendke thematisiert auf für juwiss.de, inwieweit der Gesetzgeber auf das Steuerrecht zurückgreifen kann, um nach Lösungsansätzen für große Herausforderungen zu suchen. Dem Steuerrecht komme in vielen Bereichen schon seit langem eine Steuerungsfunktion zu. Es biete "einen angemessenen Kompromiss zwischen Freiwilligkeit und Verbot". Andererseits fehle dem Steuerrecht häufig eine breite Akzeptanz. Zudem drohe eine Vermischung von Moral und Steuer. Insgesamt sei das Steuerrecht jedoch ein "probates Mittel zur Steuerung gesellschaftlichen Verhaltens".
Verhältnis EU-EMRK: In einem Gastbeitrag für die FAZ fordert Ex-Politiker Peter Gauweiler einen auch in Artikel 6 Absatz 2 Vertrag über die Europäische Union vorgesehenen Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch auf kontinentaler Ebene könne ein "checks and balances"-System nur durch die Öffnung für eine Gegenkontrolle gewährleistet werden. Deswegen sei es töricht, dass der Europäische Gerichtshof das letzte Beitrittsabkommen gekippt habe.
Urheberrechtsstreit: Die FAZ (Andrea Diener) berichtet im Feuilleton über die Lichtinstallation "Blue Port" am Hamburger Hafen, die als temporäre Kunstinstallation urheberrechtlich geschützt ist. Von Hobbyfotografen wurde von der, die Rechte des maßgeblichen Künstlers vertretenden, Verwertungsgesellschaft die Zahlung einer Lizenzgebühr oder Löschung von Fotos verlangt, wenn sie diese im Internet verbreiteten.