- Berlin - Mehr Wachsamkeit und Warnung vor dem Kontrollverlust: Angesichts wieder deutlich gestiegener Infektionszahlen mit SARS-COV-2 binnen eines Tages auf mehr als 4.000 Neuinfizierte zeigte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) heute besorgt über diese Entwicklung.
„Das ist ein Charaktertest für die Gesellschaft. Es liegt an uns allen, ob wir es schaffen. Wenn 80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus' gewaltig“, so Spahn vor der Bundespressekonferenz in Berlin. Diese Lagebewertung teilt auch Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI): „Die aktuelle Situation beunruhigt mich sehr.“
Zwar könne man nicht wissen, wie sich die Zahl der Infektionen sowie die Auslastung des Gesundheitssystems in den nächsten Wochen entwickeln werde. Es sei aber möglich, dass man mehr als 10.000 neue Fälle pro Tag bekomme. „Es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet“, so Wieler.
Noch Anfang September habe es täglich 1.000 neue Fälle gegeben, jetzt Anfang Oktober ist man bei 4.000 Fällen. Die Quote der Infizierten, die aus dem Ausland einreisen, liege inzwischen bei acht Prozent. „Die meisten Übertragungen finden im Inland statt“, so Wieler.
Lüften und Warn-App
Dem RKI-Lagebericht zufolge wurden in der vergangenen Woche mehr als eine Million PCR-Tests durchgeführt, von denen 17.964 positiv getestet wurden, das ist eine Positivrate von 1,64 Prozent. Auch dieser Wert steigt kontinuierlich an.
Noch seien zwar die Zahl der intensiv zu behandelnden Patienten niedrig, ebenso die Todesfälle. Aber immer mehr Kliniken berichtteen von steigenden Patientenzahlen. „Das Ziel bleibt, dass wir möglichste wenig Infektionen haben“, betonte Wieler.
Daher appellierten Spahn und der RKI-Chef, die bisherigen Werkzeuge wie die „AHA“-Regeln einzuhalten und für den Winter die Buchstaben „L“ für Lüften sowie „A“ für Corona-Warn-App hinzuzufügen.
Alltagsmasken, Hygiene und Abstand (AHA) hätten beispielsweise bereits dazu geführt, dass es seit März 2020 keine Maserninfektionen mehr in Deutschland gegeben habe, erklärte Spahn. Gefährlich seien aus Wielers Sicht die „drei Gs“: Geschlossene Räume, Gedränge oder Gespräche auf engem Raum.
Lockdown verhindern
Einem möglichen „Lockdown“ erteilte Spahn vehement eine Absage. Dies suggeriere, man wäre wieder in einer Lage von März oder April. „Wir sehen doch, dass es keine Ausbrüche beim Einkaufen, beim Friseur oder beim Öffentlichen Nachverkehr gibt. Auch in den Schulen und den Kitas läuft es gut.“
Vielmehr müsse man sich selbst prüfen, ob jede Feierlichkeit im privaten Rahmen „in dieser Jahrhundertpandemie“ notwendig ist, sei es als Veranstalter oder als Gast. Auch wandte Spahn sich gegen Ampelregelungen, weil die Ausbruchsfälle sowie die Ausbreitung der Pandemie zu komplex seien.
Dazu zähle auch die Fixierung auf einzelne Zahlen: Für die Gesamtbetrachtung sei nicht nur die Zahl der täglich registrierten Neuansteckungen entscheidend. Im RKI konzentriere man sich auf eine Vielzahl von Zahlen, diese würden entsprechend dem gesetzlichen Auftrag veröffentlicht, erklärte Wieler.
Warnung vor Engpässen im Krankenhaus
Auf der gemeinsamen Pressekonferenz warnte Susanne Herold, Leiterin der Abteilung Infektiologie am Uniklinikum Gießen, vor möglichen Engpässen an Krankenhäusern. „Wir bereiten uns darauf vor, auf eine neue Welle an Patienten, die schwer erkrankt sind“, so Herold.
Derzeit seien 470 Menschen mit COVID-19 auf Intensivstationen in Deutschland, sie erwarte aber, dass diese Zahl weiter steige, auch wenn derzeit besonders junge Menschen mit weniger schweren Verläufen erkrankten. „Wir bereiten uns auf eine neue Welle an Patienten vor, die schwer erkrankt sind.“
Für die Kliniken gelte: Räume für neue Patienten müssten geschaffen werden. Vielleicht müssten elektive Operationen, also Eingriffe, die nicht so dringend sind, möglicherweise wieder abgesagt werden. Herold hofft nach ihren eigenen Worten, dass die Menschen die Coronagefahr ernst nehmen, „so dass wir nicht in diese Situation kommen“.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) betonte in einer Mitteilung, dass in Deutschland derzeit mehr als 30.000 Intensivbetten für mögliche COVID-19-Patienten zur Verfügung stellen, darüber hinaus könne man 12.000 weitere Betten aktivieren.
„Die Krankenhäuser sind auch für stark steigende Zahlen sehr gut aufgestellt. Voraussetzung ist aber immer, dass sich alle darum bemühen, ein exponentielles Wachstum der Neuinfektionszahlen zu bremsen“, erklärte DKG-Präsident Gerald Gaß.
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, erklärte, dass die Vertragsarztpraxen gut auf die ambulante Versorgung der COVID-19-Patienten vorbereitet seien. Derzeit würden 19 von 20 erkrankten Patienten von niedergelassenen Ärzten betreut.
Auch würden die Praxen Vorkehrungen treffen, dass Patienten mit Coronaverdacht von denen aus der Regelversorgung getrennt werden könnten. Da die Laborärzte derzeit bis zu 1,4 Millionen PCR-Tests wöchentlich durchführten und dabei eine Positivquote von 1,5 Prozent zu sehen ist, „ist die Dunkelziffer in Deutschland nach meiner Einschätzung sehr gering.“
Die zu den AHA-Regeln zusätzliche Strategie des „L“ wie Lüften, könne das Risiko einer Ansteckung deutlich verringern. „Wir können das Risiko halbieren, wenn wir doppelt so viel Luft hereinbringen“, sagte Martin Kriegel, Experte für die Verbreitung von Aerosolen an der TU Berlin, der ebenfalls an der Pressekonferenz teilnahm.
Eine komplette Entwarnung gebe es aber auch für Raumluft nicht, die
Anzahl möglicherweise virenbeladener Teilchen sinke durch das Lüften.
„Diese Anzahl wird nie null.“ Einen Luftwechsel, nach dem ein Raum
sicher sei, gebe es allerdings nicht.
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Titelbild: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (rechts, CDU) und Lothar
Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts. /picture alliance,
ASSOCIATED PRESS, Tobias Schwarz