Nicht wenige Menschen in und um Münster haben nicht die besten Gefühle, wenn sie an LWL denken. In welcher Facette auch immer. Ich gehörte dazu. Mir war der Bau des Museums zu prunkvoll, die Bilder nicht entsprechend und damn, immer noch: die Beleuchtung zum Kotzen.
Aber wenn man sich seit 2013 auf eine Ausstellung vorbereitet, die erst auf den letzten Metern den Titel „Passion-Leidenschaft“ bekommt, macht das schon neugierig. Erst Recht, wenn dieser Event in einer Stadt „aufgeführt“ werden soll, die wenn überhaupt, für ihre alkoholgetränkten Gefühlsausbrüche bekannt ist.
Zugegeben, der Ausschnitt aus dem gigantischen Gemälde „Die Frucht der Liebe“ aus dem Pinselstrich von Frank Pauwels gen. Paolo Fiamingo, tat ihr Übriges. Erstmalig betrat ich mit freudig erregtem Gemüt die schweren Türen des Giganten neben dem Philosophikum. Ein wenig irritiert, von der bereits groß angekündigten Sonderausstellung „Angst“ (die ich garantiert auch aufsuchen werde), schlenderte ich zur Kasse, um neben der Eintrittskarte einen der liebevoll arrangiertesten Kataloge die ich je halten durfte, in Empfang zu nehmen. Das wirkt wie Blumen bei der Angebeteten. Ich konnte mir ein wohliges Summen nicht verkneifen und strich sanft über das Hardcover „meins“.
Schließfach, Kippe, gute Laune. Ab in den ersten Stock. Das Vorglühen für den Kulturinteressierten. Da mir jedoch irgendwann der Zugang zur Ikonographie abhandengekommen ist, kann ich (ganz subjektiv) leider mit den Darstellungen von teilweise an Genmutation erinnernde Gestalten nichts anfangen, weshalb ich mich in den Teil des 20. Jahrhunderts rette und die Tränen der Trauer wurden zur Reliquie der Freude. Franz Marc, Otto Dix, Gerhard Richter und viele, auch neu hinzugekommene Werke, die mittlerweile auf Zwischenwänden präsentiert werden müssen, agitierten den kleinen Rebellen, der Ihnen grad gut zuredet.
Bitte liebe Veranstalter, Architekten Ingenieure und Tüdelüs: Achtet auf die Beleuchtung. Es war teilweise aufgrund von zu viel Licht und Schatten nicht möglich, die großartigsten Eurer Werke zu bewundern. Das geht gar nicht.
Aber scheiß drauf, Malle ist nur einmal im Jahr. Ich kroch über Linoleum, Marmor und Granit um Meisterwerke herum und in den bedrückend mutig geschwärzten zweiten Stock hinauf, wo der kleine Genießer ehrfürchtig die „Classics" genoss, bevor er sich mit einem AUDI Jingle in die Sonderausstellung katapultierte.
Hier waren sie endlich: Die Rembrandts, Goyas, Schieles, Kokoschkas, Kollwitz und sogar die Peter Paul Rubens, die ich in Paderborn so schmerzlich vermisste; allen voran: „der Bethleheminische Kindermord“ aus dem Jahr 1611/12.
Der Boden, gepflastert von Kinderleichen und die Gesichtszüge von einer unbändigen Kraft der Leidenschaft geprägt. Mütter, deren Fingernägel sich in die Gesichter der Peiniger Ihrer Kinder graben neben wutentbranntem Hass im Antlitz eines hünenhaften Goliats, der ein weiteres Baby in seinen Schwingen hält, um es wenige später bestialisch zu schlachten. Das Blut der vorigen Opfer tropft noch warm am Sockel hinunter, während aus den leblosen Körpern am Boden, die Seele entschwindet. All das in so satten und echten Farben und einem Format vor dem man ins Straucheln gerät, weil man Angst hat, in die Szenerie hineingezogen zu werden und dort ebenfalls starr vor Erschrecken dem Unheil nicht Einhalt gebieten zu können. Der Schrei von August Rodin, den sie ebenfalls bewundern können, wirkt da wie eine stille Reminiszenz an all die Mütter und Großmütter, die diese Pein ertragen mussten.
Das Motiv taucht noch in weiteren Variationen von nicht weniger prominenten Meistern auf und einer der größten aller Zeiten, scheint wie von einer Briefmarke das ganze Grauen, dass man nur mit Farben aber nicht mit Worten darstellen kann, lächelnd zu bestätigen: Rembrandt.
Erst im LWL-Museum habe ich die frappierende Ähnlichkeit zwischen den Kohlezeichnungen von Kollwitz und den Arbeiten von Goya entdeckt und eine Idee vom Ausmaß des Hasses bekommen, der unsere Welt bereits seit Langem bevölkert hat und von dem wir immer noch nichts gelernt zu haben scheinen. Die ganz modernen Arbeiten waren mir oft etwas zu trivial, wie die Trump Quote Dings (Martha Roslers „POINT & SHOOT“/ 2016).
Obwohl die alten Meister den Finger ähnlich in die Wunden legten und häufig noch brachialer dabei zu Werke gingen, entwaffnen sie ungleich mehr. Ich bin erschüttert, fassungslos und zu Tränen gerührt. Vielleicht, weil ich jenes Szenario aus der Ferne betrachten kann, während das aktuelle, zumindest in globaler Kohärenz, auch aus meinem Wirken resultiert und deshalb nicht tangiert werden möchte.
Das „Tor der Finsternis“, das Rodin einst nie vollendete, oder zumindest nicht so, wie man es erwartete, steht im LWL Museum und zwar in 150 Arbeiten zur Sonderausstellung und in so vielen anderen mehr, wenn man mit Muße die heiligen Hallen erkunden möchte.
Es war teilweise wie bei einem Autounfall: Man konnte einfach nicht wegschauen. Ich denke da auch an die Arbeit von Nan Goldin „The Ballad od sexual Dependency“ oder Bas‘ Jan Aders „I‘m to sad to tell you“ aus dem Jahr 1971, bei der die Sprachlosigkeit der Trauer ähnlich wie im Paten III unfassbar authentisch „festgehalten“ wird.
Was vielen gar nicht auffallen wird, ist der Katalog. Selten habe ich ein so liebevoll gestaltetes und fachlich versiertes Begleitwerk zu einer so interessanten Ausstellung in den Händen gehalten und glauben Sie mir, das ist nicht das erste.
Auf über 300 Seiten wird mit Drucken und Hintergrundinformationen jedes Bild in den schönsten Worten so dargestellt, als könne man den Farben auf der Leinwand des Künstlers noch beim Trocknen zusehen.
Besonders beeindruckt hat mich dabei, dass auch Künstlerinnen der Renaissance wie Artemesia Gentileschi nicht ausgelassen wurden. „Susanne und die beiden Alten“, das sie 1610 mutmaßlich gemeinsam mit ihrem Vater komponierte (man sagt, Ihr Vater, von dem sie auch das Handwerk erlernte, habe sich besonders dem Alten rechts gewidmet, während sie die selbstbewusst angewiderte Susanna in Öl zu Leinwand brachte), beispielsweise.
Mutig. Erschütternd und alle sieben Darwinistischen Gesichtsausdrücke hervorrufend, das ist Passion, Leidenschaft, Kunst für Liebhaber mit sensiblen Seelen, die im tiefsten Schmerz auch den Genuss der Befriedigung zu genießen bereit sind, weil sie das Privileg besitzen, ihn zulassen zu können.
Jeder Künstler und jeder Zuschauer, der Werke für zu wenig repräsentiert hält, hat Recht, mir dieses vorzuwerfen. Aber ich will raus mit dem Artikel und die Menschen zur kontroversen Auseinandersetzung mit sich selbst und den Gefühlen im Laufe der Zeit einzuladen und zu motivieren.
Und vergessen Sie diesmal den Katalog nicht, ich weiß, 29 Euro sind sehr viel Holz, aber er macht sich nicht nur gut als Tür-Stopper oder Tischbein und ist jeden Cent wert!
Ganz, ganz großes Kino!
Bild: Lovis Corinths "Bacchanale" (1896) ist sowohl analog in der Ausstellung "Passion Leidenschaft" als auch im dazugehörigen Digitorial® des LWL-Museums für Kunst und Kultur zu sehen. Lovis Corinth, Bacchanale, 1896. Foto: © Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Text: adolf.muenstermann@gmail.com