Berlin – Angesichts der Tatsache, dass schon bald ein Impfschutz gegen COVID-19 zur Verfügung stehen könnte, haben die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut (RKI), die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Deutsche Ethikrat ein Positionspapier zur Priorisierung der COVID-19-Impfstoffe in den ersten Monaten der Knappheit vorgelegt.
Prioritär in einer ersten Gruppe sind den Empfehlungen zufolge diejenigen zu impfen, die bei einer Erkrankung an COVID-19 das höchste Risiko für Tod und schwere Erkrankung haben.
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„Wir führen derzeit systematische Literaturanalysen durch, um die jeweils relevanten Risikogruppen noch genauer zu hierarchisieren“, sagte der Vorsitzende der STIKO, Thomas Mertens, heute vor der Presse in Berlin.
Bereits jetzt sei jedoch evident, dass ein hohes Lebensalter den bei weitem stärksten und zudem am einfachsten feststellbaren generischen Risikofaktor darstelle. Aber auch unabhängig vom Alter könnten einige Vorerkrankungen das Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf deutlich erhöhen.
Eine zweite zu priorisierende Gruppe sind nach Ansicht der Experten diejenigen, die an COVID-19 Erkrankte versorgen und sich dabei selbst einem erhöhten Risiko aussetzen.
„Dazu gehören Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von stationären oder ambulanten Einrichtungen sowie der Altenpflege“, erklärte Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Personen, die für das Gemeinwesen besonders relevante Funktionen erfüllen und nicht ohne Probleme ersetzbar sind, sollen dem Papier zufolge zu einer dritten zu priorisierenden Gruppe gehören.
Neue Zuversicht
Der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Gerald Haug, zeigte sich bei der Vorstellung der gemeinsamen Empfehlungen zuversichtlich, dass mit der Impfstrategie im kommenden Jahr wesentliche Schritte zum Sieg über die Pandemie möglich seien.
„Wir dürfen optimistisch sein“, sagte auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Anschluss an die Präsentation des Papiers. Gleichzeitig sei bereits klar, dass zumindest am Anfang nicht für alle impfbereiten Menschen ausreichend viele Impfstoffdosen zur Verfügung stehen werden. „Dann wird eine Priorisierung notwendig werden“, erläuterte der Bundesgesundheitsminister.
Diese dürfe jedoch nicht nur auf Grundlage medizinisch-epidemiologischer Erkenntnisse festgelegt werden, sondern müsse auf einem „ethischen und rechtlichen Fundament“ aufgebaut sein.
Erstmalig habe er deshalb die mit nationalen Impfempfehlungen betraute STIKO gebeten, gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und dem Deutschen Ethikrat Kriterien für eine gerechte Priorisierung von COVID-19-Impfstoffe vorzuschlagen. Das Papier solle der STIKO als Leitfaden für die Entwicklung einer detaillierten COVID-19-Impfempfehlung dienen.
Nur ein Handlungsrahmen
Die heute veröffentlichten Empfehlungen stellen somit lediglich den Handlungsrahmen für die anfängliche Priorisierung der Impfmaßnahmen gegen COVID-19 dar, da derzeit noch entscheidende Ergebnisse aus den laufenden klinischen Studien (Phase 3) zu den Eigenschaften der Impfstoffe fehlen.
„Klar sind aber die ethischen und rechtlichen Prinzipien, nach denen eine Priorisierung zu erfolgen hat“, sagte Buyx. Neben der Selbstbestimmung seien dies die Nichtschädigung, als die absolute Freiwilligkeit der Impfung, ferner die Gerechtigkeit, die grundsätzliche Rechtsgleichheit, die Solidarität sowie die Dringlichkeit.
Ziel sei es, schwere COVID-19-Verläufe und Todesfälle zu vermeiden, Personen mit besonders hohem arbeitsbedingten SARS-CoV-2-Expositionsrisiko zu schützen, Transmissionen in Umgebungen mit hohem Anteil vulnerabler Personen, wie beispielsweise in Altenheimen, zu vermeiden sowie staatliche Funktionen und das öffentliche Leben aufrechtzuhalten, erklärte die Medizinethikerin.
Mehr Details bis zum Jahresende
Eine feinere Unterteilung in zu priorisierende kleinere Gruppen werde die STIKO bis zum Ende des Jahres vorlegen, erläuterte Mertens. Dazu müssten jedoch Impfstoffmerkmale und Risikokonstellationen in verschiedenen Gruppen berücksichtigt werden.
„Wir haben uns bisher noch nie mit Impfstoffen beschäftigt, die noch nicht zugelassen sind. Das ist eine völlig neue Situation. Wir werden unsere Empfehlungen jedoch auf Basis der besten verfügbaren Evidenz sowie von mathematischen Modellrechnungen herausgeben“, betonte der Virologe.
Weitere Anpassungen könnten auch noch im Verlauf der Epidemie nötig werden, wenn sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben oder neue Impfstoffe zugelassen werden.
Dass eine Priorisierung weitreichende Folgen haben kann, ist den Experten bewusst: Nötig sei deshalb eine klare parlamentsgesetzliche Regelung. Der Gesetzgeber stehe in der Verantwortung, präzise gesetzliche Grundlagen zu schaffen, heißt es dazu in dem Papier.
Vorstellbar wäre eine Regelung, die unter den Bedingungen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Priorisierungskriterien sowie Personengruppen normiert. Die weitere Konkretisierung könne in einer Rechtsverordnung und/oder einer STIKO-Empfehlung erfolgen.
Parlament gefragt
„Wenn ein wichtiges, vielleicht lebensrettendes Gut knapp ist, bedeutet eine Priorisierung notwendigerweise die Verweigerung der Zuteilung gegenüber denjenigen, die hintenangestellt werden“, erläuterte Wolfram Henn, der als Mitglied des Deutschen Ethikrates an der Erstellung des Papiers mitarbeitete, dem Deutschen Ärzteblatt.
Dies könne einen derart tiefen Eingriff in Grundrechte, insbesondere dasjenige auf körperliche Unversehrtheit, darstellen, dass eine entsprechende Regelung einer verfassungsrechtlich sauberen Legitimation bedürfe. „Deshalb ist aus unserer Sicht hier das Parlament gefragt, was auch der Transparenz und Akzeptanz des Verfahrens in der Öffentlichkeit zuträglich ist.“
Wann eine solche gesetzliche Legitimation erfolge, ließ Spahn heute offen. Die letzte Priorisierung innerhalb dieses Rahmens würden dann sicher die Behörden vor Ort treffen müssen. In der Praxis gelte es, eine Balance zwischen Korrektheit und Pragmatismus zu finden, sagte er.
Einig waren sich die Experten mit dem Bundesgesundheitsminister darin, dass eine einheitliche, transparente Verteilung unter den Priorisierungsvorgaben jedoch nicht auf den Schultern der Hausärzte ruhen könne. Stattdessen seien staatlich mandatierte Impfzentren notwendig. Die Eckpunkte für deren Aufbau legten Bund und Länder in der vergangenen Woche vor.