Münster - (pbm/acl) - Am 21. Juni schnürte Clemens Schubert seine Wanderschuhe, schulterte seinen 17 Kilogramm schweren Rucksack und winkte seinen Eltern zum Abschied zu. „Ich bin dann mal weg“ hieß es für den damals 18-Jährigen, der nur einen Tag zuvor sein Abiturzeugnis an der Bischöflichen Friedensschule entgegengenommen hatte. Sein Ziel: Santiago de Compostela. Zu Fuß. Viereinhalb Monate später und 2706 Kilometer weiter erreichte der Münsteraner die spanische Pilgermetropole. Am 1. November kehrte Clemens Schubert nach Münster zurück. Mit unzähligen Erlebnissen und Begegnungen im Gepäck.
„Ein Freund aus meiner Fußballmannschaft hat letztes Jahr gesagt: Wenn er mit der Schule fertig ist, läuft er den Jakobsweg.“ Ein Satz, an den sich Clemens Schubert nur allzu gut erinnert – und der sich bei ihm festgesetzt hatte. Doch sein Plan war ein anderer: Clemens Schubert hatte sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Kanada beworben. Ein Entschluss, den er nach reiflicher Überlegung wieder kippte und stattdessen doch die Wanderschuhe wählte – allein. „Mein Freund ist einen Monat später gestartet und ist nicht ganz bis Santiago gelaufen.“ Worauf er sich einließ, konnte Schubert zumindest ahnen, hatte er doch schon ein wenig Erfahrung gesammelt. In den vergangenen drei Jahren war er jeweils rund zehn Tage mit einer Gruppe auf dem Jakobsweg gepilgert, in Frankreich, Österreich und Spanien.
„Was mache ich hier bloß?“ Diese Frage stellte sich der frischgebackene Abiturient nur einmal – direkt am ersten Tag. „Ich bin 30 Kilometer gelaufen, viel zu viel für den Anfang“, blickt Schubert zurück. An das Gewicht seines Rucksacks, ausgestattet mit Zelt, Isomatte und Schlafsack, musste er sich auch erst gewöhnen. „Das ging aber relativ schnell, weil sich die Muskulatur schnell aufbaut.“ Über Dortmund, Köln, Bonn, Koblenz und Trier pilgerte der Münsteraner zur französischen Grenze. In Bonn besuchte Schubert seinen Bruder, nutzte die Gelegenheit für einen Pausentag, den er auf der weiteren Strecke wöchentlich einlegte. „Es bringt nichts, zum Beispiel an zwei Tagen weniger zu laufen. Körper und Seele tut es gut, in regelmäßigen Abständen mal einen Tag komplett zu ruhen“, spricht er aus Erfahrung.
In Deutschland nutzte der Messdiener und Sohn des Küsters der Herz-Jesu-Kirche jede Gelegenheit, um bei Kirchen anzufragen, ob er seine Isomatte in benachbarten Pfarrheimen ausrollen durfte. „Das war meistens kein Problem.“ In den beiden anderen Ländern war das schwieriger: „Ich spreche weder französisch noch spanisch.“ Feste Herbergen wollte er so wenig wie möglich ansteuern. „Schon allein deshalb, weil ich mir das nicht täglich leisten konnte“, erklärt der junge Mann. Besonders in Frankreich zahlte sich sein Zelt aus, das er auf Campingplätzen – sofern diese während der Corona-Pandemie geöffnet waren – oder in freier Natur aufschlug. Immer wieder sprachen ihn Leute an, fragten, ob er bei ihnen übernachten oder eine warme Mahlzeit haben wolle. Begegnungen, die Clemens Schubert nie vergessen wird. „Einmal nahm mich ein älterer Franzose mit zu sich nach Hause. Er hatte mich vor einem geschlossenen Campingplatz angetroffen und mich eingeladen. Und weil er und seine Frau nur Französisch sprechen konnten, saßen wir abends alle drei am Tisch, sie mit ihrem Tablet, ich mit meinem Handy, und haben uns über die Spracheingabe eines Übersetzungsprogramms unterhalten“, erinnert er sich.
Immer wieder gab es Momente, durch die sich Clemens Schubert hindurchkämpfen musste. „Manchmal taten die Beine einfach weh, ich hatte Hunger oder habe gefroren.“ Dann seien es vor allem die kleinen Gesten und Augenblicke gewesen, die ihm Kraft gegeben hätten und ihn dankbar sein ließen, sagt er: „Das Haus, das ich endlich erblickt habe, nachdem ich mich in einem französischen Nationalpark verlaufen hatte, die Familie, bei der ich meinen Handyakku aufladen konnte, oder eine spanische Frau, die mir einen warmen Kakao und zwei Muffins gebracht hat, als ich – für sie musste es so ausgesehen haben – wie ein Obdachloser in meinem Schlafsack unter einem Kirchenvordach lag.“
Clemens Schubert hat sich mit viel Gottvertrauen auf den Weg gemacht, der für ihn eine Mischung aus spiritueller Erfahrung, Wanderlust und Abenteuer war. „Ich konnte wenig planen und habe darauf gehofft, dass sich vieles fügen wird.“ Vielleicht auch deshalb, weil der Messdiener, der aus einem katholisch geprägten Elternhaus kommt, wusste, dass er nicht allein unterwegs ist. In jeder Kirche, an der er vorbeikam und die geöffnet war, kehrte er ein, um kurz zu beten. „Das hat mir Sicherheit geben“, sagt er. Schubert hat die Zeit des Pilgerns genutzt, um nachzudenken – über sein Leben, seine Pläne. Ein wichtiger Begleiter: eine Art Tagebuch, in das er regelmäßig die gelaufene Kilometerzahl, den Zielort des Tages und seine Gedanken notiert hat. „Das Aufschreiben hat mir sehr viel gebracht, weil ich das, was mir durch den Kopf gegangen ist, so schwarz auf weiß festhalten konnte“, sagt er. Für ihn steht fest, dass er diese Routine auch nach seiner Rückkehr in seinen Alltag übernehmen möchte.
Nur allzu präsent sind dem 19-Jährigen die Gefühle, die er kurz vor der Ankunft in Santiago hatte. „Schon in den Tagen vorher war mir klar: Jetzt kann eigentlich nichts mehr passieren. Zur Not humple ich die letzten Kilometer dorthin.“ Glücklich, zufrieden und rundum erfüllt – so lief er auf den aufgrund der Pandemie fast menschenleeren Platz vor der Kathedrale ein. Ein erhabenes Gefühl, auch wenn für Clemens Schubert immer der Weg das Ziel war, nicht die erbrachte Leistung. Sein Ankunftstag in Santiago war der Tag, an dem in Deutschland der zweite Lockdown angekündigt wurde. „Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht noch ein paar Tage länger in der Stadt aufgehalten,“, berichtet er. Sonntagabend, nur wenige Stunden, bevor auch in Münster alles wieder heruntergefahren wurde, erreichte er mit dem Bus seine Heimatstadt. In den kommenden Wochen, bevor im Dezember sein FSJ in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung beginnt, kann er durchatmen. Seine Pilgerurkunde und sein Pilgerpass mit 112 Stempeln wird ihn für immer an sein Erlebnis erinnern.