Münster - Jürgen Wiltink schlägt sanft die ersten Tasten an. Klaviermusik, die an Filmmusik erinnert, erfüllt den Flur auf der Ebene 05 im Universitätsklinikum Münster (UKM). Der katholische Krankenhausseelsorger sorgt mit seiner Musik von einem Moment auf den anderen für eine andere Atmosphäre.
Das geschäftige Treiben auf den Fluren tritt mit einem Mal in den Hintergrund. Eine Patientin auf dem Weg zu einer Untersuchung hält inne, der Vater, der sein krankes Kind auf dem Arm trägt, setzt sich auf einen der Stühle und schließt die Augen. Manche Patienten sind sogar extra für das halbstündige Klavierspiel gekommen, wollen sich trotz ihrer Sorgen entspannen.
Seit Wiltink vor viereinhalb Jahren ans UKM kam, spielt der passionierte Musiker regelmäßig für Patienten, Angehörige und Mitarbeitende, während des Lockdowns sogar täglich. Ein ehrenamtlich tätiger Musiker übernimmt eine weitere halbe Stunde in der Woche. Heute ist für Wiltink etwas anders: Zum ersten Mal sitzt der 47-Jährige an dem neuen Flügel, in dessen Besitz das UKM seit dem 11. November ist.
„Das bisherige Instrument war mehr als 100 Jahre alt, es war Zeit für etwas Neues“, sagt der Krankenhausseelsorger, der den gebrauchten, rund 30 Jahre alten Yamaha-Flügel, an dem er nun spielt, mit ausgesucht hat. Kein leichtes Unterfangen sei die Anlieferung des neuen Instruments gewesen. „Wir haben dafür den Bettenaufzug benutzt, es hat gerade so gepasst“, ist er den Profis des Klaviertransportunternehmens dankbar.
Wiltink weiß um die Bedeutung von Musik in einem Umfeld, in dem aufgrund von Krankheit und Leid manchmal Sprachlosigkeit herrscht: „Die Klaviermusik schafft einen Raum, der den Zuhörer im Klinikum aus der festen Struktur des Tages löst“, erklärt er. Patienten – ob stationär oder ambulant –, Angehörige und Mitarbeitende würden so aus ihren teils belastenden Gedanken heraus in eine Weite geführt. „Das ist eine Erfahrung, die durch Worte so nicht möglich wäre“, ist er sich sicher.
Der Seelsorger ist mit Blick auf die Krankenhaus-Umgebung kein Freund von strenger Literatur. „Ich improvisiere lieber“, sagt er. Sein Vorbild ist der amerikanische Jazz-Pianist Keith Jarret, der bei seinen Solo-Konzerten ganz aus dem Moment heraus improvisiert, ohne auf vorbereitetes Material zurückzugreifen. So hält es auch Wiltink: „Ich versuche das, was ich wahrnehme, in die Musik einfließen zu lassen. Wenn Kinder dabei sind, spiele ich vielleicht etwas Schnelleres. Wenn ich sehe, dass jemand sehr berührt ist, fühle ich in der Musik mit.“
In
der Seelsorge habe Musik unterschiedliche Wirkweisen, könne durchaus
auch spirituelle Impulse beim Zuhörer auslösen. Nicht selten käme
außerdem über das Klavierspiel ein Gespräch zustande – mit Patienten,
aber auch Mitarbeitenden. So macht Prof. Dr. Claudia Rössig immer wieder
die Erfahrung, dass manche Patienten den Klängen der Klaviermusik, die
über mehrere Ebenen zu hören ist, zu ihrer Quelle auf Ebene 05 folgen.
„Ich selbst erlebe die oft unerwartete Klaviermusik an den immer unruhigen Tagen in der Klinik als eine kleine Oase der Ruhe“, schildert die stellvertretende ärztliche Direktorin des UKM. So geht es auch einer Mitarbeiterin der psychosozialen Beratung in der Pränataldiagnostik, die ihr Büro auf dem „Flügelflur“ hat. „Ich arbeite meist mit Paaren in hochbelasteten Krisensituationen“, berichtet sie. „Und auch wenn die Musik von ihnen oft gar nicht bewusst wahrgenommen wird, habe ich den Eindruck, dass sie einen positiven Einfluss auf deren Belastungsgefühl und Stresslevel hat.“
Ob Musik heilen kann? Das möchte Wiltink selbst nicht beurteilen. „Dazu wird es sicherlich wissenschaftliche Untersuchungen geben“, sagt der Krankenhausseelsorger. Und doch habe er bereits die Erfahrung gemacht, dass Musik Schmerzen nehmen kann: „Ein Mann ist nach dem Klavierspiel zu mir gekommen und hat sich bedankt. Er habe vorher Kopfschmerzen gehabt, die bedingt durch die Musik nicht mehr da waren.“
Das mögen Einzelfälle sein, sagt Wiltink, dennoch ist er überzeugt: „Musik kann entlasten und dafür sorgen, dass ich mich für einen Moment gedanklich nicht mit meiner Krankheit, mit meinem Sterben und Tod beschäftige.“
Quelle: Ann-Christin Ladermann/ Bistum Münster
Foto: Bistum Münster