Die Konvention ILO 190 (International Labour Organization) hebt geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung besonders hervor und formuliert konkrete Anforderungen an Unternehmen. Dr. Christina Stockfisch vom Deutschen Gewerkschaftsbund war an den Verhandlungen aktiv beteiligt und erklärt im Interview, welche Fortschritte die Konvention bedeutet und worum es konkret geht.
Vor über einem Jahr wurde die ILO-Konvention Nr. 190 gegen Gewalt und sexuelle Belästigung beschlossen. Welche Bedeutung hat das Übereinkommen für Arbeitnehmer*innen weltweit?
Das ILO-Übereinkommen ist ein historischer Meilenstein. Es sind die vielleicht weitreichendsten Vorschriften zu Arbeitsstandards, die je von der ILO beschlossen wurden. Sie betonen das Recht jeder und jedes Einzelnen auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung. Die Konvention trägt damit der aktuellen Realität in der Arbeitswelt und der darin vorhandenen Gewalt und Belästigung Rechnung. Nicht zuletzt die metoo-Debatte hat deutlich gemacht, wie dringend wir einen solchen internationalen Standard brauchen, der klare Normen und Grenzen setzt.
Welche Neuerungen bietet die Konvention in Bezug auf Schutz vor Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt?
Das ILO-Abkommen liefert die erste weltweit gültige Definition von sexueller Belästigung und Gewalt. Es bezieht sich nicht nur auf den Arbeitsplatz allein, sondern auf die Arbeitswelt generell und umfasst damit einen viel größeren Schutzbereich für Beschäftigte. Denn nicht nur Gewalt allein im Job hat nach der neuen Definition Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die ILO-Norm betont auch die Verantwortung des Arbeitgebers, Arbeitnehmer*innen zum Beispiel vor den Folgen häuslicher Gewalt zu schützen. Auch eine Definition des Begriffs „worker“ mit einem sehr weiten Anwendungsbereich konnte durchgesetzt werden und umfasst sowohl formelle als auch informelle Arbeitsverhältnisse.
Zum ersten Mal wurde also eine weltweit gültige Definition von „Gewalt und Belästigung“ und „gender based violence“ festgeschrieben. Wie werden denn die Begriffe definiert und welche Dimensionen von Gewalt werden erfasst?
Genau, Gewalt und Belästigung wurde als gemeinsame Definition im Text verankert und wird als eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung definiert, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen oder diesen zur Folge haben können. Es gibt erstmals einen expliziten Bezug auf die geschlechterspezifische Dimension von Gewalt und Belästigung. Das kann auch bedeuten, dass Ressourcen oder der Zugang zu Dienstleistungen verweigert werden. Geschlechtsspezifische Gewalt beruht auf Geschlechternormen und ungleichen Machtverhältnissen. Frauen sind hiervon häufiger betroffen als Männer.
Wer wird durch die Konvention besonders geschützt? Und wie kommen Betroffene zu ihrem Recht?
Eine große Errungenschaft ist, dass das Übereinkommen Betroffene unabhängig von Vertragsstatus und Arbeitsstätte schützt, das heißt nicht nur Festangestellte, sondern alle Erwerbstätigen sowie Freiwillige, Arbeitsuchende und andere. Damit kann sich die Managerin auf Dienstreise oder beim Mailverkehr ebenso auf das Übereinkommen berufen wie die Praktikantin im Büro oder die Putzkraft in einem Privathaushalt. Berücksichtigt werden auch Gewalt und Belästigung, die von Dritten ausgehen, etwa durch Fahrgäste im Bus. Das Abkommen sieht Beschwerdemöglichkeiten, medizinische Versorgung, soziale Betreuung bis hin zu rechtlicher Hilfestellung vor. Weltweit können sich Beschäftigte nun auf das ILO-Abkommen berufen und sich gegen Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz wehren, zum Beispiel indem sie sich gewerkschaftlich organisieren und in betrieblichen Vereinbarungen und Tarifverträgen Regelungen gegen Gewalt am Arbeitsplatz aushandeln.
Was sind die – neuen – Pflichten der Arbeitgeber unter dieser Konvention und welche Umsetzungsmechanismen sieht das Übereinkommen vor?
Die sind recht umfassend festgeschrieben: Präventions- und Schutzmaßnahmen, Vereinbarungen, Information der Arbeitnehmer*innen und natürlich Sanktionen gegen Verstöße. Arbeitgeber sind dazu verpflichtet, geeignete Schritte zu unternehmen, um Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu verhindern und zum Beispiel in Beratung mit Arbeitnehmer*innen und ihren Vertretungen, eine Arbeitsplatzpolitik zu Gewalt und Belästigung anzunehmen und umzusetzen. Sie sollten Gewalt und Belästigung und damit verbundene psychosoziale Risiken im Arbeitsschutz-Management berücksichtigen und unter Beteiligung der Arbeitnehmer*innen und ihrer Vertretungen Gefahren ermitteln, die Risiken von Gewalt und Belästigung bewerten sowie Maßnahmen zu ihrer Verhinderung ergreifen. Sie sollten Arbeitnehmer*innen auch Informationen und Schulungen über die Risiken und verfügbare Präventions- und Schutzmaßnahmen bereitstellen.
Es wird anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung weit verbreitet sind und die Konvention erfordert, dass sowohl die Ursachen als auch Symptome angegangen werden. Wie soll das konkret umgesetzt werden?
Letztlich geht es darum, die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber sexueller Belästigung und Gewalt zu ändern. Wir müssen die zugrundeliegenden Ursachen angehen, einschließlich multipler und sich überschneidender Formen von Diskriminierung, Geschlechterstereotypen und ungleichen geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen. Hier setzen das Übereinkommen und seine Umsetzungsempfehlung auf Risikobewertungen am Arbeitsplatz, Schulungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen.
Die Konvention berücksichtigt auch, dass häusliche Gewalt zu einem Problem der Arbeitswelt wird, wenn sie sich auf die Arbeit auswirkt. Daher sind auch Maßnahmen gegen häusliche Gewalt notwendig und vorgesehen. Welche genau?
Nicht nur die Gewalt im Job hat Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Ein Beispiel: Eine Frau ist vor ihrem gewalttätigen Ehemann ins Frauenhaus geflüchtet. Doch der Ehemann lauert ihr täglich vor dem Fabriktor auf, weil er weiß, dass sie weiterhin in der Fabrik arbeitet. Hier kommt nun der Arbeitgeber ins Spiel und muss die Frau schützen; zum Beispiel durch die Berücksichtigung von häuslicher Gewalt in der Arbeitsplatz-Gefährdungsanalyse, flexible Gestaltung von Arbeitszeit und -ort, eine mögliche Freistellung von Opfern häuslicher Gewalt. Denkbar wäre auch ein temporärer Kündigungsschutz.
Wie geht es denn nun weiter? Bisher haben nur Uruguay und Fidschi das Übereinkommen ratifiziert.
Zwei Länder reichen – und somit tritt die Konvention am 25. Juni 2021 in Kraft. Aber es gibt weltweit immer noch viele Vorbehalte. Die internationale Gewerkschaftsbewegung Global Union hat die Kampagne „#Ratify now!“ gestartet und lobbyiert weltweit für eine zügige Ratifizierung. Unter anderem Island, Namibia, Barbados, Irland, Kroatien, die Dominikanische Republik, Mexiko und die Niederlande haben inzwischen angekündigt, die Konvention 190 zeitnah zu ratifizieren.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hatte nach Beschluss des Übereinkommens eine rasche Ratifizierung angekündigt, diese ist jedoch bis heute nicht erfolgt. Wo steht Deutschland heute?
In Deutschland sieht es gar nicht schlecht aus. Nachdem im Herbst letzten Jahres die offizielle Übersetzung des Übereinkommens vorlag, schritt der Ratifizierungsprozess sehr zügig voran. Jetzt muss allerdings der Europäische Rat ermächtigt werden und das Europäische Parlament zustimmen, da europäische Regelungsgehalte berührt sind. Erst im Anschluss kann die parlamentarische Debatte in Bundestag und Bundesrat erfolgen. Und hier hakt es momentan. Im Januar hat der Europäische Rat die Verhandlungen dazu begonnen, doch es gibt Mitgliedsstaaten, die diesen Beschluss blockieren. Bedenken haben vor allem Bulgarien, Ungarn und die Slowakei angemeldet. Die Europäische Kommission sucht derzeit nach einer Lösung.
Die COVID-19-Pandemie hat die Arbeitswelt vieler Menschen stark verändert – durch die Verlegung des Arbeitsortes in das eigene Zuhause, Lockdown oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Gerade Menschen in informellen oder prekären Arbeitsverhältnissen sind betroffen. Dies sind überproportional häufig Frauen. Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Pandemie auf geschlechtsspezifische Gewalt in der Arbeitswelt ein?
Die Coronakrise zeigt die Probleme wie durch ein Brennglas und Frauen sind stärker betroffen als Männer. Textilarbeiterinnen haben häufig die am schlechtesten bezahlten Jobs in Fabriken und kämpfen sowohl bei der Arbeit als auch zuhause mit gesundheitlichen Problemen, finanzieller Unsicherheit, Gewaltrisiken und einer hohen Belastung durch Pflegearbeit. Durch COVID-19 haben sich diese Risiken weiter verschärft. Gesundheitsrisiken werden oft ignoriert, die hygienischen Bedingungen sind teilweise katastrophal. Viele arbeiten im informellen Sektor und haben keine finanzielle Absicherung. Auch der Entzug von Ressourcen ist eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt.
Wenn in Familien, deren finanzielle Situation schon vorher prekär war, einzelne oder mehrere Familienmitglieder arbeitslos werden, steigt die Gefahr von häuslicher Gewalt. Das haben die teilweise rasant steigenden Zahlen der häuslichen Gewaltdelikte in diesem Jahr sehr deutlich gemacht. Hier zeigt sich auch ganz klar, wie eng häusliche Gewalt und deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt verbunden sind – ein wichtiges Anliegen der ILO-Konvention 190.
Obwohl Frauen besonders von der COVID-19-Krise betroffen sind, fehlt es bei Reaktionen und Maßnahmen von Regierungen und Arbeitgebern häufig an einer geschlechtsspezifischen Perspektive. Welche Orientierung können wir aus dem Übereinkommen ziehen und wie können Multi-Stakeholder-Initiativen wie das Textilbündnis Unterstützung leisten?
Regierungen und Arbeitgeber sollten Vorbilder sein und die Maßnahmen, die das Abkommen vorsieht, bereits in ihren Unternehmen umsetzen. Der Text des Abkommens ist beschlossen und im Internet zugänglich. Unternehmen müssen nicht auf die Ratifizierung warten, um die Arbeitswelt in ihren Unternehmen und ihrer Lieferkette präventiv zu gestalten – in Richtung einer gewalt- und belästigungsfreien Arbeitswelt. Möglich wäre etwa die Sensibilisierung von Textilarbeiter*innen für die Probleme oder die Unterstützung fabrikinterner Komitees. Geschlechtssensible Daten und ihre Analyse sind ebenfalls ein wichtiger erster Schritt, um Lücken in den Sorgfaltspflichten von Unternehmen zu schließen. Hier könnte das Textilbündnis unterstützen.
ILO 190