Münster - Als die Antibabypille Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts
eingeführt wurde, war sie gesellschaftlich umstritten. Trotzdem setzte
sie sich innerhalb weniger Jahre durch und führte zum sogenannten
„Pillenknick“, also einem Rückgang der Geburtenzahlen auch in
Deutschland. Prof. Ludwig Kiesel ist Direktor der Frauenklinik am UKM
(Universitätsklinikum Münster) und wägt Vorteile und Risiken der Pille
sorgfältig gegeneinander ab.
60 Jahre Pille: Fluch oder Segen für die moderne Frau?
Ich würde denken, für die moderne Frau war die Einführung der Pille als
Kontrazeptivum also Verhütungsmittel, eindeutig ein Segen. Hunderte
Millionen Frauen auf der ganzen Welt nahmen und nehmen sie täglich ein.
Damit lässt sich mit der Einnahme eines Medikaments nachhaltig die
individuell private Lebensplanung gestalten. Und ganz wichtig: Die Pille
ist ja nicht nur Verhütungsmittel, sondern hilft auch bei
gynäkologischen Beschwerden wie Zyklus- oder Blutungsstörungen. Die
Pille kann der Zyklusregulierung dienen, bei Langzeiteinnahme kann die
Pille Schmerzen, die beim natürlichen Zyklus während der Periode da sein
können, einfach überbrücken. Nicht zuletzt ist ein Nebeneffekt der
Pille, dass einige gynäkologische Erkrankungen gar nicht oder seltener
auftreten. Das Auftreten von Krebser-krankungen wie Eierstockkrebs wird,
dazu gibt es Studien, fast um die Hälfte gesenkt.
Trotzdem erhöht die Hormoneinnahme aber auch das Risiko, manche Erkrankungen erst zu bekommen?
Risiken gibt es mit Blick auf die Gefäße, insbesondere bei den
Beingefäßen und hier bei den Venen. Dort können Thrombosen auch schon
bei jungen Frauen unter Einnahme eines Kombipräparats aus Östrogen und
Gestagen in seltenen Fällen entstehen. Bei sogenannten Minipillen, die
nur eines der beiden Hormone enthalten, gibt es dieses Risiko nicht. Es
gibt bei den Präparaten sehr große Unterschiede in der Wirkweise. In
Nachbarländern wie Frankreich beispielsweise sind wegen unerwünschter
Nebenwirkungen sogar manche Präparate verboten, die wir hier
verschreiben.
Gibt es eine Gleichung, in der man nun den Nutzen der Pille ihrem Schaden gegenüberstellen kann?
Das wäre ein bisschen wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Rein
statistisch gesehen überwiegen für Millionen von Frauen bei Weitem die
Vorteile. Man betrachte die große Anzahl von unerwünschten
Schwangerschaften, die wir sonst hätten und womöglich auch eine damit
einhergehend größere Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen. Das kann zu
weitaus höheren Komplikationen führen als die Einnahme der Pille.
Ist
die Pille ein „Lifestyle-Produkt“, weil sie Frauen die Möglichkeit von
Sexualität ohne die Gefahr einer Schwangerschaft ermöglicht?
Mit Blick auf ihre Verhütungsfunktion hat Pille nur zum Teil etwas mit
Lifestyle zu tun. Als Verhütungsmittel eingesetzt, ist die Anwendung
medizinisch, auch wenn zugegeben eine Schwangerschaft keine Krankheit
ist, die es zu verhindern gilt. Aber es gibt durchaus auch
„Lifestyle-Anwendungen“, z.B. indem man die Pille gegen übermäßige
Behaarung einsetzt oder bei Akne. Allerdings ist es eben so, dass gerade
die Präparate, die das bewirken, im ungünstigen Fall Thrombosen
begünstigen können, weswegen gerade junge Mädchen in den Praxen der
niedergelassenen Gynäkologen umfassend darüber aufgeklärt werden müssen.
Eine Beratung in Richtung alternativer Ver-hütung sollte auf jeden Fall
immer auch stattfinden.
Angesichts einer immer
gesundheitsbewussteren Gesellschaft: Glauben Sie, dass die Einnahme von
Hormonen in zwanzig Jahren noch den Bedürfnissen entsprechen wird? Oder
ist die Pille dann passé?
Ich bin sicher, dass die Pille in der jetzigen Form nicht der Weisheit
letzter Schluss ist. Da die Einnahme der Pille als Medikament nicht
zwingend notwendig ist, stehen die möglichen Folgewirkungen natürlich
stärker in der Diskussion als zum Beispiel bei einem lebensrettenden
Krebsmedikament. Wir schauen also bei der Pille immer mehr in Richtung
Akzeptanz und Ver-träglichkeit. Und jede Frau für sich bewertet
individuell und wägt gegeneinander ab. Seit einigen Jahren beobachten
wir Frauenärzte eine gewisse „Pillenmüdigkeit“ gerade bei jüngeren
Frauen. Das spiegeln uns auch die Verschreibungszahlen wider.
Info:
Anlässlich des Weltverhütungstags am 26. September 2019 veröffentlicht
die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erste
Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zum Verhütungsverhalten
Erwachsener 2018. Demnach sind Pille und Kondom nach wie vor die
wichtigsten Verhütungsmittel in Deutschland. 47 Prozent der erwachsenen,
sexuell aktiven Frauen und Männer benennen die Pille als
Verhütungsmethode, 46 Prozent nutzen das Kondom. Im Vergleich zur
vorhergehenden Studie aus dem Jahr 2011 gibt es mit 9 Prozentpunkten
einen deutlichen Anstieg bei der Kondomnutzung. Die Verhütung mit einem
hormonellen Kontrazeptivum geht im gleichen Zeitraum um 6 Prozentpunkte
zurück. Diese Entwicklung ist besonders ausgeprägt in der jungen
Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen. Bei ihnen ist der Anteil der
Pillennutzenden innerhalb der vergangenen sieben Jahre um 16
Prozentpunkte gesunken (von 72 auf 56 Prozent).
Quelle: ukm/aw
Foto: Kiesel, UKM