Schreie, Flehen - das Erleben der Gezeiten sowie des eigenen Seins inmitten aller affizierten Sinne. Das war und ist das Werk des britischen Malers William Turner, einem der imposantesten Landschaftsmaler aller Zeiten.
Die Bilder des 1775 in London geborenen und 1851 ebenda verstorbenen, kauzigen Briten, provozierten seit jeher durch ihre Eigensinnigkeit und Brachialität. Passend zum Zeitalter der Aufklärung und der Romantik wechselte auch der Visionär Turner die Perspektive der Objektivität in die Betrachtungsweise des Zuschauers, oder besser des „Erlebers“. Da werden Winde giftig oder peitschend grün und Wolken beängstigend schwarz, obwohl die objektive Realtität eigentlich das Gegenteil lehrt(e).
Wir alle kennen jedoch diese düsteren Wolken ohne Erbarmen, aber haben uns bisher, also bis Turner, vielleicht aus Angst, auf die Objektivität des Seins konzentriert und in der hat alles seine Ordnung, auch Perspektiven und Farben.
Turner mischte diese Vorstellungen neu und kreierte somit den Anbeginn der künstlerischen Moderne. Die Farben machten die Werke zu Momentaufnahmen der Zeit, die mit Phantasie angereichert, eine Idee der Zeit um 1800 und danach wiederzugeben versucht. Die gebrochene Klarheit der Achsen, in der sich beispielsweise eine Lawine sich aus dem Mittel in den Vordergrund ergießt, war das 3D-Erlebnis der Vergangenheit. Man fürchtete sich, weil einem die Bilder aus der eigenen Erinnerung und Erzählungen bekannt war, aber man ergötzte sich an dem Moment, es nur betrachten und nicht komplett erneut erleben zu müssen.
Das Wunderkind William Turner wurde bereits mit 14 Jahren Schüler und mit 27 vollständiges Mitglied der „royal Academy“, die erst sieben Jahre vor seiner Geburt gegründet wurde. Vergleichsweise spät, wenn man die anderen europäischen Entwicklungen wie beispielsweise in den Niederlanden betrachtet.
„Horror und Delight“, Licht und Schatten, Dialektik auf Leinwand. Denn auch hier entsteht das, was unsere Wirklichkeit gestaltet, erst im Auge oder besser im Geist des Betrachters. Das legt allein schon die Arbeitsweise von Joseph Mallord William Turner, wie der Sohn eines Perückenmachers eigentlich heißt, zu Grunde. Turner setzte sich nicht an den Fuß eines Berges und legte wie beispielsweise van Gogh einfach los, sondern er vollzog die große Kunst in kleinen Schritten.
Zuerst ging er auf Reisen, wie Anfang des 19. Jahrhunderts
nach Luzern in der Schweiz, wo auch diese Ausstellung vormals Station machte. Hier
saugte er Impressionen ein wie Literaturkritiker Buchstaben. In einem zweiten
Schritt wurden Aquarelle geschaffen, um Bildidee und Farbkomposition bei einer
ersten Betrachtung zu prüfen. Erst dann, im Winter selektierte er aus den bis
dato etwa 30.000 Nachlasswerken, was er in Öl auf Leinwand bringen würde.
Und selbst bei diesem Schritt, herrschte der Gedanke der Ökonomie über dem Schaffen des Künstlers. so lautet eine der Legenden, dass Turner mit dem farbgetränkten Pinsel so lange über hintereinander angeordnete Leinwände strich, bis die Farbe zur Neige ging. Eines der Werke im LWL Museum zeigt diese Ökonomie dergestalt, dass sich zwei Strandlandschaften einen Himmel teilen. Diese Leinwand sollte später noch aufgeteilt werden, wenn man es nicht wüsste, würde man denken „wtf....“
William Turner, der ewig Rastlose, der immer den Zenit der Professionalität erklimmen und für sich beanspruchen wollte, malte mit Pinsel, Spachtel, Fingern und so viel Leidenschaft. Am meisten beeindruckt aber wohl die düstere Brille der Faszination Naturgewalt, die an Goya oder Caravaggio bei der figürlichen Malerei erinnert.
Die Zusammenarbeit mit der „modern Tate“ in London ist heute das Highlight, auf das das LWL so lange gewartet hat. Ein wahrer Meister, der in der westfälischen Provinzmetropole Station macht. Warum, das weiß keiner so genau, aber dass es sich nicht um ein sinnloses Unterfangen handelt, zeigt der Ansturm und das breite Interesse an der Wanderausstellung, die im Anschluss nach Kanada weiterziehen wird.
Die Ausstellung, die leider nur zwei Monate in Münster gastiert, ist ein Event der Extraklasse, für Kunstgeschichte- Studenten und den „normalen“ Kunstinteressierten. Denn bei näherer Betrachtung zeigen sich unheimlich viele Parallelen zur heutigen Zeit, Krieg und Isolierung, denn nur mit Glück konnte während der Napoleonischen Kriege Turner auf das Festland Europas entwischen, Umbruch, düstere Wolken am Horizont der Zukunft.
Angesprochen auf die Parallelen zur jetzigen Brexit-Situation mussten deshalb auch die Verantwortlichen schmunzeln, denn ein Brexit zu Ende Oktober hätte nicht nur in der Logistik zu dieser Ausstellung wohl einiges durcheinander gewirbelt (obwohl alle Eventualitäten angeblich berücksichtigt wurden).
Aber, so wie in Turners Bildern Sonne und Mond oft einen letzten Schimmer der Hoffnung in einem düsteren Szenario spenden, versicherte man auch in der Pressekonferenz zuvor, dass schon eine weitere Ausstellungskooperation mit der modern Tate in London für 2023/24 in Arbeit sei.
Aber jetzt: „Horror und Vergnügen“ auf sechs Räume aus sechs verschiedenen Schaffensperioden des „Masters of Desasters“ oder wie es einst ein Freund von mir ehrfürchtig meinte: des dunklen Lords der Malerei.
Joseph Mallord William Turner (1775–1851), Peace – Burial at Sea, ca.
1842, Öl auf Leinwand / oil on canvas, © Tate: Accepted by the nation as
part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019
Joseph Mallord William Turner (1775-1851), Southern Landscape with an Aqueduct and Waterfall, 1828,
© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo ©Tate, 2019
Joseph Mallord William Turner (1775-1851), Light and Colour
(Goethes Theory) - the Morning after the Deluge - Moses Writing the
Book of Genesis, Exhibited 1843, © Tate: Accepted by the nation as part
of the Turner Bequest 1856, © Photo ©Tate, 2019
Joseph Mallord William Turner (1775-1851), The Battle of Fort Rock, Val dAouste, Piedmont, Exhibited 1815,
© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo ©Tate, 2019
Ulf Münstermann