Freunde treffen, gemeinsam Sport treiben, reisen oder ein geselliger Konzertbesuch – viele Menschen sind es gewohnt, Pläne zu verfolgen, ständig etwas zu tun zu haben und ihre Freizeit mit anderen Menschen zu verbringen. „Das Alleinsein ist für den Menschen nicht von der Evolution vorgesehen“, meint die britische Ökonomin Noreena Hertz in ihrem neuen Buch „The Lonely Century“. Doch viele Freizeitbeschäftigungen, die uns vor der Corona-Krise selbstverständlich erschienen, sind derzeit nicht möglich oder sollen möglichst vermieden werden.
Das bleibt nicht ohne Folgen. Viele Menschen fühlen sich einsam und isoliert – es fällt ihnen schwer, sich allein zu beschäftigen, was zu Langeweile und Frustration führen kann. Ob und welche Auswirkungen diese Faktoren auf die Psyche der Menschen haben, treibt auch die Wissenschaft um. Bislang fehlten belastbare und deutschlandweit gültige Aussagen über derartige psychische Folgen der aktuellen Pandemie.
Doch die aktuellen Ergebnisse der NAKO-Gesundheitsstudie (“Nationale Kohorte”) bringen etwas Licht ins Dunkel. Darin untersuchen und befragen Wissenschaftler aus bundesweit 18 Studienzentren seit 2014 in längeren Abständen rund 205.000 Personen zu ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit. Eine Zusatzerhebung fand im Mai – mitten in der Pandemie – statt, wodurch nun erstmals Vorher-Nachher-Vergleiche möglich sind. Demnach stieg der Anteil von Betroffenen mit moderat bis schwer ausgeprägten depressiven Symptomen – also klinisch relevanten Symptomen – von 6,4 auf 8,8 Prozent. „Die Ergebnisse weisen zudem darauf hin, dass sich in der Phase der Gegenmaßnahmen die Angst- und Stress-Symptome in der Bevölkerung verstärkt haben“, sagt Prof. Klaus Berger, Direktor des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der WWU und Sprecher der NAKO-Expertengruppe „Neurologische und Psychiatrische Erkrankungen“.
Stress stellt auch Bernadett Greiwe, Leiterin der Zentralen Studienberatung der WWU, bei den Studierenden fest. „Häufig wenden sich Betroffene an uns, weil sie überfordert sind mit der Gesamtsituation, dem Studienstart und dem Fortkommen im Studium in dieser belastenden Zeit“ erläutert sie. Diese Sorgen kennt auch Psychologin Prof. Dr. Carola Grunschel aus ihrer Lehr-Erfahrung. „Die Angst, die Anforderungen im Studium nicht erfüllen zu können oder nicht zu wissen, wie es nach dem Abschluss weitergeht, führt bei den Studierenden zu Stress”, betont die Leiterin der Arbeitseinheit Pädagogische Psychologie an der WWU. Die Studierenden erleben aber auch Langeweile, zum Beispiel beim Ansehen mehrstündiger Lehrvideos. „Es ist vor allem der Umgang mit diesem Gefühl, der darüber entscheidet, ob Langeweile für jemanden zum Problem wird. Einige werden sich neue Beschäftigungen suchen, die in dauerhaftem Interesse münden können, was sogar mit einem positiven Befinden in Verbindung gebracht wird“, erläutert sie.
Auch das Gefühl der Einsamkeit ist nicht automatisch schlecht für die psychische Gesundheit, unterstreicht Prof. Dr. Mitja Back. „Wir alle kennen dieses Gefühl. Aber erst wenn es chronisch wird und wir immer wieder spüren, nicht ausreichend Kontakt zu anderen Menschen zu haben, begünstigt Einsamkeit psychische und körperliche Erkrankungen”, erklärt der WWU-Experte für psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie. Die allgemeine Annahme, vor allem ältere Personen könnten während der Pandemie vereinsamen, weil sie als Risikogruppe besonders auf soziale Kontakte verzichten müssten, bestätigte sich in Studien überraschenderweise nicht. Im Gegenteil: Vor allem junge Menschen fühlen sich einsam. In diese Richtung weist auch die NAKO-Studie, die eine Zunahme von depressiven Symptomen vor allem bei Personen unter 60 Jahren und jungen Frauen verzeichnet.
Weniger durch Einsamkeit gefährdet sind laut Mitja Back Menschen, die emotional stabiler und stressresistenter sind, die eine positive Einstellung gegenüber anderen Menschen haben und unterschiedliche Kontakte pflegen, die ihr Leben gut organisiert haben, und die in der Lage sind, Herausforderungen etwas Positives abzugewinnen. „Viele Menschen scheinen erstaunlich robust gegen Einsamkeit zu sein. Sie sind in der Lage, ihre sozialen Bedürfnisse auf andere Art und Weise zu erfüllen“, betont er. Noreena Hertz ist dagegen von möglichen handfesten Gesundheitsrisiken durch das Alleinsein überzeugt – einschlägige Experten hätten herausgefunden, „dass Einsamkeit so schädlich ist wie 15 Zigaretten am Tag“.
Leben auf sozialer Distanz
Gerald Echterhoff über Strategien gegen Einsamkeit
Die aktuellen Kontaktbeschränkungen während der Pandemie sind Experten zufolge wider unsere menschliche Natur und fallen uns deshalb sehr schwer. „Als ultrasoziale Spezies wählen Menschen unterschiedliche Wege, um das Bedürfnis nach sozialen Kontakten trotz Beschränkungen zu erfüllen”, betont Prof. Dr. Gerald Echterhoff.
Einige Personen versuchten etwa, sich trotz Einschränkungen mit Freunden zu treffen. Das berge die Gefahr, das Risiko einer Infektion zu unterschätzen. „Studien belegen, dass wir ein Risiko niedriger einschätzen, je näher uns die betreffende Person ist”, erklärt der Sozialpsychologe. Auf die Corona-Krise übertragen bedeute das: Treffen mit der Familie und mit Freunden halten viele fälschlicherweise für ungefährlicher als eine Bahnfahrt mit Fremden – entsprechende Treffen sind daher an der Tagesordnung.
Stattdessen kann man bei sozialen Kontakten auf virtuelle
Verabredungen ausweichen, denn auch das helfe gegen die drohende
Einsamkeit. „Unsere Tagebuch-Studie aus dem Frühjahr zeigt:
Online-Kontakt mit Freunden, vor allem per Video, hilft, Gefühle von
Isolation zu verringern”, unterstreicht der Wissenschaftler. An der WWU
bieten vor allem die Fachschaften der unterschiedlichen Studiengänge
viele Formate an, um in Kontakt mit Kommilitonen zu bleiben.
Das Studierendenwerk hat Projekte wie das „Friendship-Speed-Dating” ins Leben gerufen, um Studierende im Digitalsemester miteinander zu vernetzen. Mit Bezug auf seine aktuelle Forschung weist Gerald Echterhoff allerdings darauf hin, dass Online-Austausch für Paare kurzfristig nicht die erhoffte Verbesserung der Gefühlslage erbringt. In solchen Fällen würden sich manche Menschen noch isolierter fühlen, vermutlich weil physische Nähe vor allem in Beziehungen für stressreduzierende Effekte erforderlich sei.
Wer das Gefühl hat, mit der aktuellen Situation nicht mehr zurecht zu kommen, oder Tipps zum Umgang mit der Pandemie braucht, kann sich auch oder gerade jetzt an Einrichtungen der WWU wenden.
Quelle: Jana Haack, WWU Münster (upm/jah)
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 16. Dezember 2020.
Foto: Warren Wong on Unsplash. Die kontaktbeschränkenden Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise verlangen den Menschen viel ab. Wird das Gefühl der Einsamkeit chronisch, kann das psychische und körperliche Erkrankungen begünstigen.