Der
FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann fordert angesichts der hohen
Corona-Infektionszahlen eine Anpassung der Auflagen. Ullmann sagte der
Wochenzeitung „Das Parlament“ (Montagausgabe): „Den Lockdown, den wir im
Moment haben, kann ich nur teilweise unterstützen.“ Er fügte hinzu: „In
einigen Bereichen wäre ich für sinnvollere Maßnahmen, um besonders
ältere Leute besser zu schützen. Dazu gehören mehr FFP2-Masken, mehr
Tests für Angehörige, Taxigutscheine und gesondert ausgewiesene
Einkaufszeiten für vulnerable Personengruppen.“
Beim Öffentlichen
Nahverkehr sollte seiner Ansicht nach die Zahl der Passagiere reduziert
werden. Ob hingegen Ausgangssperren funktionierten, bezweifle er. Es
sei aber sinnvoll, mehr Möglichkeiten für das Homeoffice zu schaffen.
„Das ist natürlich nicht für jeden Beruf geeignet. Als Pflegekraft, Arzt
oder Handwerker geht das nicht. In Verwaltungen kann ich mir das aber
sehr gut vorstellen“, sagte der FDP-Politiker.
Das Interview im Wortlaut:
Herr
Ullmann, noch nie sind so schnell Impfstoffe entwickelt worden, aber
das Corona-Impfprogramm läuft zögerlich an. Was überwiegt bei Ihnen,
Freude oder Frust?
Ganz klar Freude, dass wir Licht am Ende
des Tunnels sehen. Es scheint so, als würden wir im Laufe des Jahres in
Europa genug Impfstoffe haben. Als Infektiologe und Politiker ist es für
mich auch schön zu sehen, dass mit Innovationen aus der
Privatwirtschaft etwas so Wichtiges erreicht wird für diese Welt.
Trotzdem wird der Impfstart kritisiert. Woran hapert es im Moment?
Die
Impfprogramme in den Bundesländern laufen tatsächlich nicht rund. Es
gibt Länder wie Schleswig-Holstein, die auf gute Impfraten kommen, und
dann haben wir Länder wie Sachsen, wo es nicht gut läuft und das
zugleich die höchste Infektionsinzidenz aufweist. Es ist traurig, dass
wir bei den Impfraten kein bundeseinheitliches Bild sehen.
Wie kommt es zu den Unterschieden?
Das
hängt mit unterschiedlichen Programmen zusammen, wie Impfungen
verabreicht werden. Wir haben momentan etwa zwei Millionen Impfdosen zur
Verfügung, es sind bisher aber nur rund 700.000 Menschen geimpft
worden. Auch wenn man die nötige zweite Impfdosis noch zurückhält,
hätten rund 300.000 Menschen mehr geimpft werden können. Warum das nicht
geschehen ist, kann ich nicht nachvollziehen.
Hätte der anfängliche Mangel an Impfstoffen verhindert werden können?
Teilweise
ja. Es wäre zumindest eine andere Verteilung denkbar gewesen. Es ist ja
verwunderlich, dass Länder wie die USA oder Israel eine deutlich höhere
Impfquote aufweisen und offensichtlich im Verhältnis auch mehr
Impfstoff zur Verfügung haben als Europa. Gleichwohl ist die europäisch
koordinierte Impfstoffbeschaffung richtig, denn Impfnationalismus ist
der falsche Weg.
Woher kommt ausgerechnet bei vielen Pflegekräften die Impf-Skepsis?
Sorgen
machen sich nicht nur Pflegekräfte, auch Ärzte. Die Sorgen müssen wir
ernst nehmen. Es gab möglicherweise bei der Schweinegrippe eine
unerwartete Nebenwirkung, die Schlafkrankheit. Die Erfahrung von damals
führt heute zu der Sorge, es könnte bei der Corona-Impfung
Nebenwirkungen geben, die wir nicht kennen. Daher ist eine umfangreiche
Information und Evaluation der bereits Geimpften nötig, um den Menschen
die Ängste zu nehmen. Denn nur eine gute Aufklärung schafft
Impfakzeptanz.
Es sind besonders ansteckende Virus-Mutationen aufgetaucht. Wie schätzen Sie die Gefahr ein?
Die
Gefahr ist sehr ernst zu nehmen. Wir brauchen in Deutschland und Europa
eine bessere Überwachung der Mutationen des Coronavirus, denn sie ist
unzureichend. Es ist nicht überraschend, dass Viren mutieren, aber wir
müssen sie rechtzeitig erkennen. Es wäre schlimm, wenn die Mutanten
nicht mehr auf den Impfstoff reagierten.
Wie wahrscheinlich ist es, dass durch die Mutationen die Infektionszahlen exponentiell steigen?
Das
lässt sich schwer sagen. Die Übertragung des Virus verläuft ja immer
gleich, das passiert bei Kontakten zwischen Menschen, egal, ob das Virus
mutiert ist oder nicht. Wir müssen also unsere Kontakte so weit wie
möglich reduzieren. Wenn die Menschen sich an die Kontakt- und
Abstandsregeln halten, muss es nicht zu einer weiteren Ausbreitung des
Virus kommen.
Den Lockdown unterstützten sie also?
Den
Lockdown, den wir im Moment haben, kann ich nur teilweise unterstützen.
In einigen Bereichen wäre ich für sinnvollere Maßnahmen, um besonders
ältere Leute besser zu schützen. Dazu gehören mehr FFP2-Masken, mehr
Tests für Angehörige, Taxigutscheine und gesondert ausgewiesene
Einkaufszeiten für vulnerable Personengruppen. Ob hingegen
Ausgangssperren wirklich so funktionieren wie gehofft, bezweifle ich.
Beim Öffentlichen Nahverkehr sollte dagegen die Zahl der Passagiere
reduziert werden. Klar ist, die Zahl der privaten und dienstlichen
Kontakte muss niedrig bleiben.
Wäre es auch sinnvoll, Firmen mehr Homeoffice vorzuschreiben?
Ich
bin immer kritisch gegenüber Vorschriften, die nicht differenzieren.
Jeder Arbeitgeber hat Verantwortung für seine Mitarbeiter und deren
Gesundheit. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden für das
Homeoffice, das ist natürlich nicht für jeden Beruf geeignet. Als
Pflegekraft, Arzt oder Handwerker geht das nicht. In Verwaltungen kann
ich mir das aber sehr gut vorstellen.
Viele Kinder sind über Monate nicht in die Schule gegangen. Wie beängstigend finden Sie das?
Das
bereitet mir große Sorgen. Der Staat hat gegenüber der jungen
Generation eine Bildungsverpflichtung. In der Vergangenheit ist zu wenig
in die Digitalisierung der Schulen investiert worden. Lehrer müssten
stärker in neue Unterrichtskonzepte eingebunden werden. Viele Eltern
sind außerdem mit Homeoffice und Homeschooling doppelt belastet. Hier
muss die Politik für Entlastung sorgen, und wenn es nur steuerlich ist.
Hat die Coronakrise wenigstens die Digitalisierung voran gebracht?
Sie
entwickelt sich. Viele Menschen kennen sich jetzt aus mit
Videokonferenzen. Das reicht aber nicht. Die Coronakrise hat schmerzlich
aufgezeigt, wie sehr die Digitalisierung im Gesundheitswesen fehlt. Im
Öffentlichen Gesundheitsdienst haben sich gravierende Mängel offenbart,
da wurden Infektionszahlen anfänglich per Fax verschickt. Das muss rasch
wesentlich besser werden.
Wie lange halten wir wirtschaftlich den Lockdown durch?
Nicht
auf ewig. Wir haben jetzt schon eine Wirtschaftskrise, Selbstständige
und Unternehmen schreiben Verluste, Aufträge gehen dramatisch zurück.
Wir brauchen für die Wirtschaft einen klugen Regelbetrieb unter
Infektionsschutzbedingungen, damit das Arbeiten möglich ist und keine
Infektionen durch den Arbeitsplatz stattfinden.
Erleben wir gerade den Höhepunkt der Coronakrise?
Es
wird eher Frühjahr werden, bevor wir über den Berg sind. Wir haben sehr
viele Tote zu beklagen, einige Todesfälle hätten verhindert werden
können. Gerade bei Menschen über 80 Jahren sind die Infektionszahlen
weiterhin extrem hoch. Zu deren Schutz ist zu wenig unternommen worden,
auf Landes- und Bundesebene.
Sie schauen als gebürtiger
Kalifornier auch auf die USA. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage dort
ein zwischen Amtsübergabe und Gesundheitskrise?
Die Lage in
den USA ist dramatischer als in Deutschland und zeigt auch die Schwäche
des amerikanischen Gesundheitssystems auf. Ich bin froh, dass der
künftige Präsident Biden die Bekämpfung der Pandemie mit Priorität
angehen will, um möglichst viele Menschen zu retten.
Ist die Wahl Bidens ein Signal zur Stärkung der internationalen Gesundheitspolitik?
Davon
gehe ich aus. Biden hat verstanden, dass die internationalen
Gesundheitsregularien reformiert werden müssen, aber auch, dass die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehr wichtig ist für die globale
Gesundheitspolitik. Die USA wollen der WHO ja auch wieder beitreten. Ich
freue mich auch über sein Bekenntnis zum Multilateralismus bei globalen
Gesundheitsthemen.
Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld
Professor Andrew Ullmann (58) ist seit 2017 Abgeordneter im Bundestag und Mitglied im Gesundheitsausschuss.