Soeben habe ich auf Spiegel online einen Bericht über das Germanistikstudium gelesen „was ich vor dem […]Studium gerne gewusst hätte“, oder so ähnlich. Die Kategorie machte mich seit langem einmal wieder neugierig, also legte ich die Decke zur Seite und widmete mich dem Content der Konkurrenz.
Als ich vor etwa eineinhalb Jahren mit dem (Germanistik-)Studium begann, hatte ich weder von dem Fach, noch von dem, was mich erwartet eine Ahnung. Viele werden nicht ganz unberechtigt behaupten: Hat er immer noch nicht. Aber ich war begeisterter Schreiber und wurde in meinem Abitur von meinen Deutschlehrern in die Faszination Linguistik eingeführt. „Eingeführt“ wirkt an dieser Stelle etwas… anzüglich, aber ist durchaus passend, denn wie wenig Ahnung ich von dem hatte, was ich glaubte mit einem gigantischen goldenen Löffel gefressen zu haben, sollte ich noch erfahren (müssen).
Mein erster Deutschlehrer im zweiten Anlauf zur Matura, wie die Österreicher sagen würden, war von seinem Fach und meinem Leistungskurs begeistert. Was in Zeiten von frustrierten Pädagogen schon ein Alleinstellungsmerkmal war. (Auf meinem ersten Bildungsweg, war mir dieses Glück leider nicht so hold, deshalb darf ich das anmerken.) Wir sprachen über Goethes Faust und Kafkas Prozess nicht nur als Pflichtlektüre, sondern als hätten diese Bücher unter Kopfkissen und in Hosentaschen ihre ganz persönlichen Gesichtsfalten als Teil eines individuellen Lebens erhalten, denn der Unterricht ging weit über Obligatorisches wie Stilmittel hinaus.
OK, der Zugang zu „Vor Sonnenaufgang“, von Gerhart Hauptmann fiel schwer. Der Berliner Akzent stand wie eine Berliner Mauer zwischen mir und dem Verständnis dessen, was der Naturalismus uns lehren sollte und die Form des Fließtextes ohne Absatz im „Prozess“ war gewiss gewöhnungsbedürftig, aber mich persönlich steckte die Faszination zum Schreiben dermaßen an, dass ich schon zu Beginn meiner Reifeprüfung wusste: Das will ich studieren (; und dennoch verirrte ich mich vorab in die Ökonomik).
An der Uni wurde ich dann mit der ganzen Wahrheit konfrontiert. Als Großmaul habe ich mich natürlich nicht darüber informiert, was mich erwarten würde und war somit sehr überrascht, dass Mittelaltersprachen, Phonologie und Phonetik basale Bestandteile eines Germanisten sind.
Aber die anfängliche Begeisterung trug mich über Plosive, Frikative und Affrikate. Ich bin ehrlich: Das war „pain in the ass“, aber gleichzeitig gestaltete sich ein Blick in das Familienalbum unserer Sprache als der wahre Schatz der (vormals) Ni(eg/)belungen. Ohne herausragende Professoren allerdings unmöglich.
Denn das Wohlwollen unseres Dozenten in altdeutsche Sprachen belohnte mein bemühtes aber ernsthaftes Interesse. Ich verstand beinahe nichts aber steigerte mich so sehr in die Faszination des Unbekannten unseres primären Kommunikationsmittels, dass ich selbst gotische Hieroglyphen und ihre Logik mit „ausreichend“ bestand, wofür ich auf Knien dankbar bin, denn sonst hätte ich viele Dinge, die mir leichter zugänglich waren und hoffentlich noch sein werden, nie erfahren.
Natürlich gibt und gab es auch viel, was mir nicht passt, egomane, selbst lesefaule Privatdozenten, die über Film referier(t)en, ohne jemals die Kontenance gegen Leidenschaft eigetauscht zu haben. „Psycho“ von Hitchcock wurde zum Mantra der Konventionen, statt zum Gruselkabinett der Synapsen und jedwede Frage zu Analogien in anderen Filmen wurde untersagt. Was auf den Professor der Vorlesung nicht zutrifft!
Als jemand der Werbefilme selbst geschrieben, als Schauspieler „performed“ und im Kino beinahe jeden Film gesehen hat, kam ich aus einer ganz anderen Ecke des Interesses. Ich liebte und liebe Filme, aber das durfte ich nie zeigen. Wichtig ist allein, was analytisch rekonstruierbar ist. Das frustrierte mehr als ich es in Bezug auf Kommaregeln je für möglich gehalten habe und der Genderscheiß, na ja, Sie lesen ja meine Artikel und können sich ein Bild davon machen (wenn nicht, schauen Sie gern hier in meine Historie).
Kurz: Anfangs und über diesen (diachronen) Punkt bin ich immer noch nicht hinweg, ist das Germanistikstudium wie eine Wurzelbehandlung nach dreißig Jahren ohne Zähneputzen. Kasus, Numerus und Genus wurden zu meiner Lieblingsfriktion, denn das hatte ich wenigstens schon mal gehört, obwohl ich es als kleiner Junge noch scheute wie der Teufel das Weihwasser. Grammatik wurde so zu einer Art Kernkompetenz (; ich muss immer noch lachen). Und Briefe, die ich noch immer gerne analog niederschreibe, wurden mir von einer Seite gezeigt, wie ich sie nicht für möglich gehalten habe. Es war und ist schrecklich. Wenn ich vormals an intime Botschaften dachte, überfiel mich eine Gänsehaut, wenn ich heute meiner Professorin zuhöre, krieg ich das Kotzen.
Aber all das ist nicht wichtig, denn zu jeder Fachwissenschaft gehört in der Regel auch ein Background, den es zu lernen gilt. Ich konzentriere mich auf den Benefit, den man daraus generieren kann. Wie einmalig Kafka seine Angst vor Frauen in Zeilen an Milena zu Papier brachte, beflügelt meine Phantasie und bereichert meine Ausdrucksweise, ob er sich dabei epochal betrachtet, selbst verliert und ob das typisch für seine Zeit war, ist mir dabei egal. Kafka und ich kultivieren die Leidenschaft zum Schreiben, das ist meine private Botschaft des Meisters aus Prag, ob Frau Doktor das verstehen kann oder nicht, ist dabei (für mich) nebensächlich.
Das Germanistikstudium wurde somit zum Fluch und Segen meines Lebens. Ich war Legastheniker und prügle Grammatik; und wo ich früher über orthographische Hürden sinnierte (Großschreibung etc.), schweife ich heute in die Geschichte des Apostrophs ab. Unfassbar, was alles interessant sein kann.
Wer Germanistik studieren möchte, sollte sich deshalb unbedingt gerne detailverliebt mit Sprache auseinandersetzen wollen sowie wirklich gut lernen können. Und mit Lernen meine ich nicht auswendig lernen, sondern verstehen. Texte wieder und wieder lesen, ohne beim ersten Anlauf auch nur ein Wort verstehen zu können, denn Germanisten lieben Fachtermini. Jedes zweite Wort ist ein Fachausdruck und wenn man es kompliziert ausdrücken kann, wird sich der gemeine Germanist für diese Darstellungsweise entscheiden. Zugegeben, das spart extrem viel Zeit, denn Fachausdrücke sind extrem praktisch, wenn man ihnen eine Chance gibt. Das sagt einem allerdings keiner vorher, weshalb man anfangs nicht selten der Verzweiflung nahe ist.
Was mir Halt gab, war der Mut zum Unverständnis. Ich las erstmalig und verstand nichts. Dann wieder. Und wieder. Immer und immer wieder den gleichen Text, bis es plötzlich „Klick“ macht. Und ich garantiere jedem, dieser Moment kommt, auch wenn man nicht selten zwei Semester oder mehr darauf warten muss.
Das Wunderbarste ist aber, dass man sukzessive anfängt zu verstehen. Mit jedem Lesen, steigt das Verständnis wie beim Puzzlen. Semester eins ist somit wie das Ausschütten aller Teile und das wiederholte Lesen wird zum selektiven Blick über die 10.000 Teile, die es, in diesem Falle im Kopf, zu sortieren gilt. Wer dazu bereit ist, den erwartet im Germanistikstudium eine phantastische Reise in die Untiefen dessen, was die meisten als obligatorisches Werkzeug im Alltag begreifen. Denn warum ein gepflegtes „Fick dich!“ im Stau so und nicht anders formuliert werden kann, lernt man im Germanistikstudium, und das ist mindestens so interessant wie die Alternativen, die einem zur Verfügung stehen.
Man begreift, was Heinrich Böll, als literarischer Wanderer, wenn man nach Spa(rta) kommt, so faszinierend machte und macht, dass Vicky Baum nicht eine vertrocknete Eiche sondern eine großartige Autorin aus Wien war, die es zu „Menschen im Hotel“ zog und warum Erec und Enite Harry und Sally des Mittelalters genannt werden können.
All das, dank meiner großartigen Professorin in Mediävistik (die sich sogar bereit erklärte, Artikel von mir zu lesen). Denn sie konnte nicht nur für Nibelungen und Lucretia begeistern, sondern war auch genügsam und bereit, selbst die dämlichsten Fragen zu beantworten. Schriftlich. Immer. Das ist ein Geschenk, das ich nie zuvor erfahren habe. Es gibt Menschen, die dir alle Fragen beantworten können und wollen, weil sie, wie man selbst, für Inhalte brennen und wissen, dass man nie auslernt; Ausnahmen bestätigen die Regel.
Walter Kempowski hat einmal gesagt, dass das Germanistikstudium die Lust am Schreiben stielt und ich gebe zu, dass kann passieren, auch wenn mir nur ein einziger Kommilitone aufgefallen ist, der wie ich dem geschrieben Wort so viel Begeisterung schenkt. Die meisten Germanisten studieren ihr Fach, weil sie keine Alternative kennen. Ganz nach dem Motto: Wirste Nix, wirste eben Deutschlehrer. Ich hasse das, weil es dem Fach nicht gerecht wird. Was man im Studium der Germanistik lernt ist, warum Kommunikation wie funktioniert. Warum sind Worte so gestaltet, wie sie gestaltet sind. Warum schreibt man anders als man spricht und verdammt: Warum das alles gut zu wissen ist.
Ich persönlich genieße die Grenzen der Sprache nicht wie Wittgenstein (Sprachphilosoph) als die Grenze meines Seins, sondern als das Schlachtfeld desselben. Nur wer sie kennt, kann sie überschreiten, um darüber bewusst Irritationen und Akzente zu gestalten.
Gut, das beflügelt meine Lust auf eine Hausarbeit über die Filmanalyse an einem Werbespot nur latend; („Ich hab mich eh gefragt, warum du dieses Seminar gewählt hast“, würde eben erwähnter Kommilitone jetzt entgegnen), aber Kinderbücher und Thriller in meinem Kopf und auf dem Rechner danken mir schon jetzt für mein Durchhaltevermögen, das ich zugegeben, nicht selten in Frage stelle. Und meine Tochter, die das ganze einen „Scheiß“ interessiert, profitiert auch davon. Ihr Wortschatz gereicht schon jetzt zu einer Eloquenz, von der ich in ihrem Alter geträumt habe, mein Bücherregal wird zur Fundgrube des Wissens und ist nicht (mehr) nur schönes Beiwerk, das auch durch eine ähnliche Tapete kompensiert werden könnte. Und ganz nebenbei ist der Primus des Fachs zu einem meiner besten Freunde geworden. All das und noch viel mehr, gibt mir das Studium der Germanistik und von Philosophie habe ich noch gar nicht begonnen.
All das, hätte ich vielleicht vor Beginn des Studium wissen sollen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich gar nicht erst begonnen hätte, wäre ebenso groß gewesen wie jene, es dankend abzulehnen.
Ja, mit Germanistik stillt man keinen Hunger und selbst bei Genderfragen sind viele Fachleute allein schon mit dem Problem an sich so überfordert, dass sie auf kritische Nachfragen sich nicht zu antworten trauen; aber die Geschichte endet ja nicht im Jetzt. Jeder Student hat es selbst in der Hand, mit den Skills des Studiums sich (s)einer Lebensbaustelle schriftlich zu widmen. Denn im Gegensatz zum Physiker, Mathematiker, Mediziner oder BWLer (um nur einige zu nennen), kann er nicht nur verstehen, sondern sich auch anderen so mitteilen, dass man ihn oder sie versteht; wenn er/sie/es und alle anderen es denn will bzw. wollen.
Also, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen und lerne etwas über die stärkste Waffe im Werkzeugkasten deines Lebens: Sprache. Aber werde großzügig im Verzeihen, denn neben all den klugen Menschen an der Universität, gibt es auch dort Arschlöcher*innen, die nichts anderes im Kopf haben als Karriere und bei all dem Fleiß, das Leben selbst ganz vergessen. Aber was bringen Liebesbriefe aus Moskau, wenn man keine eigenen schreiben oder gar immer und immer wieder mit den Augen verschlingen und im Herzen aufbewahren darf?
Bis morgen, oder so,
Bild: Pixabay
P.S. Ich bedanke mich bei allen, die sich in diesem Text gerne wiederfinden und bei denen, die das nicht tun, eben nicht. Natürlich konnte ich nicht auf alle guten und schlechten Facetten an der WWU eingehen, weshalb ich mich bei Allen entschuldige, die zu recht anmerken, dass sie unerwähnt blieben.