Manchmal, wenn morgens Sonnenstrahlen
durch das nicht geputzte Fenster meiner Seele die Entscheidung
Aufzustehen vorweg nimmt, sitze ich noch einige Momente auf der Decke
und lausche der Geräuschkulisse, die seit einigen Jahren
Vertrautheit suggeriert. Dann schließe ich die Augen und
inhaliere das Gurren der Tauben, die mich an Früher erinnern und
Bilder meiner Kindheit in mir zum Leben erwecken. Und manchmal, wenn
ich nicht von den Schweißperlen des Stresses wieder aus meinen Gedanken gerissen werde, bin ich beinahe traurig, dass der Moment der Muße mit
so banalen Impressionen angefüllt war.
Viel lieber hätte ich von den Akkordeonspielern vorm Stephans-Dom geträumt. Kerzenschein, der in den Pfützen des Kopfsteinpflasters das schöne dunkelhaarige Mädchen wie ein Kunstwerk widerspiegelt, das nur darauf wartet, von mir zum Tanzen aufgefordert zu werden. Dann denke ich an zarte Lippen, die, leicht geöffnet, verträumt eine Jugendsünde vor sich hin flüstern, ohne sich zu regen.
Oder davon, als ich in längst vergangen Tagen gemeinsam, mit einer heimlichen Liaison in einem stillgelegten Freizeitpark in Berlin, knutschend in einer Schwanengondel saß. Wie das roughe Ambiente von rostigen Stahl und Natur, die sich von Menschenhand Geschaffenes wieder einverleibt, die Romantik von „Midnight in Paris“ verströmt.
Verliebt in das Kribbeln im Bauch, das einem wie von einer Daunenfeder des Oberbettes der Großeltern, das Zwerchfell streichelt, weil die kastanienbraunen Augen des Gegenübers einen verschlingen. Wenn Blicke sich streicheln und das intime Fenster freigelegte Haut, eine Gänsehaut auf ihrer Taille freilegt. Meine Hand, die sich nicht traut, dieses Kunstwerk zu berühren, und den Geist, aufgrund des unbändigen Wunsches, Kapriolen schlagen lässt.
Das Leben ist voll von diesen flüchtigen Momenten, die aus schnödem Sein, triumphierendes Leben machen. Egal, ob bei minus 20 Grad in Paris, mit einem wärmenden Kaffee in den Händen und dem Duft meiner Liebsten in der Nase oder wenn bei frühlingshaften Temperaturen die schlanken Beine sich wieder unter die Decke verkriechen und die vollen Lippen einen schmatzenden Kuss erwarten.
Die schönsten Gedanken sind so vergänglich wie die Sekunde, in denen sie aufblitzen. Ich erinnere mich mit Ehrfurcht und kindlicher Freude an jedes Streicheln der zarten Hand und an jedes Wort, das leidenschaftlich in mein Ohr gesäuselt wurde. Immer dann, wenn der Himmel Rosen regnet und die Flüsse Tränen führen wird Blut zur Schnappatmung des Herzens, das, angereichert durch das Leben in ihm, aus einem Organ den Mittelpunkt des Universums macht, gibt uns das Schicksal die Chance, ab jetzt nur noch richtige Entscheidungen zu treffen.
Und dann öffne ich meine Augen und
verschwunden sind die Berührungen und Düfte, die aus Daten bewegte
Vergangenheit. Ich habe nichts vergessen, meine ersten Scampies nicht und
die Hoffnungen, die ich beim Kochen damit verband, das Handtaschenbier
der Dame in Frankfurt nicht, das aus dem Main die Seine machte. Ihre
Springerstiefel, die mehr Sexappeal verströmen als alle Pumps der Welt, das Astloch der Tischplatte, durch das uns ein
Kellnerblick erwischte, als wir unter dem Tisch verschwanden oder die
Margeriten im Rollkragen, die kurz zuvor von ihr liebevoll in meinen
Locken drapiert wurden.
Ich liebe das Gefühl, begehren zu können und lieben zu dürfen, wenn Vorfreude zum Taxi des Überlebens wird. Der Gedanke, wenn er in meinen Träumen sanft das Bild von uns liebkost oder ermüdet von der Arbeit an einem Rosenstrauch vorbeischlendert und an den ersten Strauss denkt, den ich ihr schenkte. Als aus den verbotenen Früchten der Erkenntnis, das Geschenk des Lebens wurde.
Manchmal denke ich melancholisch daran zurück und wünsche mir, dass alles noch vor mir zu haben. Und manchmal schaffe ich es sogar nur dankbar für die Erinnerungen zu sein.
Aber das Moment, wenn ich ihren Zehen Namen geben darf und das Rot ihrer Nägel andeutet, dass es noch größere Geheimnisse zu ergründen gibt, dann bin ich wieder neugierig auf die Verlockungen des Lebens und blind für die Realität, die alles pragmatisch macht. So frei wie in der sechsten Klasse, als die 13-jährige Italienerin mit der blutigen Lippe von einer vorangegangenen Schlägerei, mein Herz über den ersten Kuss zum Leben erweckte.
Und manchmal frag ich mich, ob es Fluch oder Segen ist, vom Leben so beschenkt worden zu sein, denn erst die Erinnerung schafft die Grundlage für Schwermut.
Foto: privat