Frau Dr. Ghanbari ist Lehrerin an der Mathilde-Anneke-Gesamtschule in Münster und Leiterin des Sportpatenprojekts. Frau Dr. Ghanbari erzählt in diesem Interview über ihren eigenen Lebensweg, die Chancen des Projekts und die Reformbedürftigkeit des Bildungssystems.
stadt 4.0: Frau Dr. Ghanbari, Sie wurden beim Global Teacher Award 2017 zu einer der zehn besten Lehrerinnen der Welt gewählt. Wie haben Sie das geschafft?
Ghanbari: Das kam durch das
Sportpatenprojekt, es verknüpft bereits mehrere der nachhaltigen
Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (UN3 Gesundheit und Wohlergehen; UN 4
Hochwertige Bildung; UN10 Weniger Ungleichheiten; UN16 Frieden, Gerechtigkeit
und starke Institutionen).
Klar ist,
dass es ganz viele tolle Lehrer und Lehrerinnen gibt, die für mich nach wie vor
Vorbilder und Mentoren sind. Die großartigen Kollegen an meiner Schule, meine
eigenen Lehrer:innen, aber auch die Grundschullehrerin meiner Tochter. Sie
leisten gerade jetzt großartige Arbeit und setzen sich in dieser besonderen
Zeit für unsere Kinder ein. Ich finde, das muss einfach auch mal betont
werden. Lehrer:innen können Helden für die Kinder sein! 2013 wurde ich
bereits mit dem Cusanuspreis ausgezeichnet, da ich meine Wissenschaft in das
Sportpatenprojekt transferiert habe. Und genau diese besondere Verbindung des
Sportpatenprojekts zwischen Schule, Universitäten, Forschung, Ehrenamt und
Unternehmen ist einmalig und hat mich letztendlich in die Top 10 des Global
Teacher Prize gebracht.
stadt 4.0: Sie sprechen das Sportpatenprojekt an. Wie entstand die Idee?
Ghanbari: 2012 ist das Projekt das erste Mal durchgeführt worden mit zwei Sportpaten. Die Idee hatte ich schon 2007… noch als Studentin der Sportwissenschaft, war ich an Brennpunktschulen tätig und habe dort gesehen, wie die Traurigkeit von Kindern aussehen konnte. Ich musste zurück an meine eigene Vergangenheit denken und wollte diesen Kindern Halt geben, ihnen den Glauben an sich selbst zurück schenken. Ich habe damals schon festgestellt, dass Sport und Mentoring der Weg waren, diese Kinder stark zu machen und ihnen den Glauben an sich selbst zurück zugegeben. Wenn ich es geschafft habe, dann wollte ich, dass auch diese Kinder es schaffen! Parallel dazu entstand mein Engagement im „Eine Welt Kreis“ und ich war mit auf einer Projektbetreuungsreise nach Indien. Hier entstand meine Forschungsidee für meine Examensarbeit und spätere Promotion. Die Kinder dort strahlten mich an, sie tanzten, gingen in der Bewegung auf und das, obwohl sie im Kinderheim lebten! Sie hatten einfach ganz tolle Mentoren, die ihnen Halt und Hoffnung gaben…
Ich wollte etwas zurückgeben. So entstand die Idee für das Projekt und für meine Forschung
Mit dieser Idee ging ich zu zwei wichtigen und zentralen
Menschen in meinem Leben: Prof. Dr. Meike Tietjens und Prof. Dr. Bernd Strauß,
eine langjährige Mentorin und Doktormutter, sowie ein langjähriger Mentor und
Doktorvater von mir. Sie wurden zu meinen Mentoren im Studium und
gaben mir eine Chance. Vor allem aber glaubten sie an mich und meine Ideen.
stadt 4.0: Was genau ist es, das Sie zurückgeben wollen?
Ghanbari:
Ich habe früher als Kind nie daran geglaubt, dass ich studieren könnte,
geschweige denn jemals eine Doktorarbeit schreiben würde, für die ich ein
Stipendium erhalten würde. Ich habe immer gedacht, ich bin nicht gut genug,
wäre nicht so schlau, wie die anderen Kinder, damals in der Grundschule. Meine
eigene Vergangenheit hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen im Leben zu
haben, die an einen glauben. 2009 war ein Meilenstein in meinem
Laben: meine Examensarbeit in Nigeria wurde zur besten studentischen wissenschaftlichen
Abschlussarbeit ausgezeichnet (Auszeichnung beste
Studentische Abschlussarbeit WWU 2009). Die Examensarbeit erweiterte sich zum Kulturvergleich mit Nigeria und Deutschland und ich wurde
Promotionsstipendiatin
des Cusanuswerks: dieses hätte ich mir niemals vorgestellt und zugetraut,
damals in der vierten und fünften Klasse. Ich gehörte
nun zu den Wenigen, die ein Stipendium erhielten! Für mich war klar, wenn ich forsche, soll es direkt den Kindern wieder zu Gute kommen… Nicht viel reden und schreiben, sondern direkt transferieren und machen!! Ich wollte etwas zurückgeben. "Begabtenförderung ist keine Belohnung für vergangene gute Noten, sondern eine Hoffnung auf einen zukünftigen, bedeutsamen Beitrag zum Gemeinwesen." Und als ich 2012 glücklich schwanger war mit meiner Tochter, mitten in meiner Promotion, wusste ich, jetzt gehe ich das Sportpatenprojekt an. Ich weiß selber, wie wichtig es ist, einen Mentor zu haben. Meine Entwicklung war auch nicht immer so gradlinig. Ich war in der Grundschule nicht sehr leistungsstark. Trotzdem habe ich immer Menschen gehabt, die an mich geglaubt haben. Ich würde ohne diese Menschen und Unterstützer nie da sein, wo ich heute bin.
stadt 4.0: Welche Personen sprechen Sie konkret hier an?
Ghanbari: Es gab in der Grundschule einen Lehrerwechsel, der für mich sehr schwierig war. Erst später, so in der siebten, achten Klasse habe ich eine mich sehr prägende Person kennengelernt. Ingrid Sieverding kam in mein Leben: Eigentlich sollte sie meinem Bruder Nachhilfe geben, doch sie wurde zur lebenslangen Mentorin für mich. Sie brachte mir bei, Goethes Faust zu analysieren, Englisch zu schreiben und zu verstehen. Durch den Lehrerwechsel in der 8. Klasse bekam ich großartige Lehrer an meiner Seite. Sie glaubten an mich und sahen meine Stärken. Ich wuchs über mich hinaus. Meine engagierten Lehrer zeigten mir, wie wichtig es ist, Lehrer zu haben, die an einen glauben! Am Ende der 10 Klasse hatte ich es geschafft: Ich hatte meine Qualifikation und war unter den Top 10 des Jahrgangs. Mein Weg führte mich nun zum Abitur und Studium:
stadt 4.0: Hat sich der Kontakt zu Ihrer ersten zentralen Mentorin gehalten?
Ghanbari: Ja, noch immer. Und während meines Studiums habe ich mir als Haushaltshilfe bei ihr Geld verdient. Sie war es auch, die mich nach Indien zur Entwicklungszusammenarbeit und nach Nigeria gebracht hat.
stadt 4.0: Gibt es eine Verbindung zwischen Ihren Erfahrungen mit Ihren Mentoren und dem Sportpatenprojekt?
Ghanbari: Ja, auf jeden Fall! Die Menschen, die an mich geglaubt und mich unterstützt haben, haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, stärkenorientiert zu arbeiten.
stadt 4.0: Sie sprachen die
Bedeutung Ihrer Auslandserfahrungen für das Sportpatenprojekt an. Warum war das so prägend für Sie?
Ghanbari: Durch meine Mentorin
Ingrid Sieverding entstand mein Engagement im „Eine Welt Kreis“; sie nahm mich
mit auf eine Projektbetreuungsreise nach Indien. Und hier entstand meine
Forschungsidee für meine Staatsexamensarbeit. Ich schrieb meine Examensarbeit
in Nigeria und erforschte in der Promotion das Bewegungsverhalten im Kulturvergleich
und wie sich dieses auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und
Jugendlichen auswirkt. Die Auslandsaufenthalte waren u.a.
Forschungsaufenthalte. Die ersten Ergebnisse meiner Doktorarbeit sind direkt in
das Sportpatenprojekt transferiert worden. Ich erforschte das
Bewegungsverhalten, die körperlich-sportliche Aktivität und die
Selbstkonzeptentwicklung von Kindern und Jugendlichen in Nigeria und
Deutschland.
stadt 4.0: Können Sie bitte die Ergebnisse Ihrer Forschung darstellen?
Ghanbari: Allgemein kann man festhalten, dass es einen deutlichen Bewegungsmangel in den westlichen Ländern gibt. Durch die Forschungsergebnisse lernte ich folgendes: Damit Kinder sportlich aktiv sind, müssen sie Freude und Spaß an der Bewegung entwickeln, selbstbestimmt, selbstorganisiert und kooperativ aktiv werden. Es sollte nicht darum gehen, besser zu sein als andere, sondern dass sportliche Aktivität von innen heraus kommt. Bewegung ist essentiell und zentral für die kindliche und jugendliche Entwicklung (physisch, psychisch, sozial). Aber Kinder brauchen auch einen Mentor, der an sie glaubt, sie motiviert und an die Hand nimmt. Wie lernen Kinder Fahrradfahren, Schwimmen und andere sportliche Bewegungen? Stellen Sie sich vor, sie hätten Fahrrad fahren theoretisch an der Tafel gelernt, wie ist das Fahrrad aufgebaut, welche Mechanik usw. und am Ende hätten Sie einen Test darüber geschrieben. Würden Sie dann heute motiviert Fahrrad fahren? Sportpaten nutzt das Prinzip des Mentoring und der Patenschaft. Kinder brauchen jemanden, zu dem sie aufschauen, der sie an die Hand nimmt. Es ist das Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit. Unsere Sportpatenkinder und Sportpaten erleben voneinander Anerkennung und Wertschätzung, sowie die Erfahrung sich als selbstwirksam zu erleben, damit sie gestärkt sind und fördern ihren Glauben an sich selbst, etwas zu bewirken und zu erreichen. Die Sportpatenkinder erleben über die kooperativen und selbstbestimmten sportlichen Aktivitäten Anerkennung, Motivation und Freude und entwickeln so ein positiveres Selbstbild. Das Sportpatenprojekt führt Kinder und Jugendliche zu einem aktiven und freudigen Bewegungsverhalten, welches als Ressource für ihre weitere Entwicklung dient und den negativen Gesundheitsentwicklungen entgegenwirkt. Kinder wollen von sich aus Sport machen, sich bewegen, es ist essentiell, um sich zu entwickeln. Man kann auch bei Wind und Wetter rausgehen. Und ich glaube, es ist wichtig, dass man das nutzt. Einfach rausgehen, Spaß haben, die Straßensport-Kultur wiederbeleben. Es geht nicht um den nächsten Sieg auf dem Fußballplatz, sondern um die sportliche Bewegung. Wenn ich greifen kann, kann ich begreifen. Das ist ganz zentral.
stadt 4.0: Das Sportpatenprojekt
setzt sich wesentlich aus vier Bereichen zusammen: Universität, Schule, Unternehmen und
Ehrenamt. Was hat es damit auf sich?
Ghanbari: 2012 während meiner Promotion und in der Schwangerschaft ist das Projekt entstanden. Mittlerweile sind wir in 5 Fachbereichen (Sportwissenschaften, BWL (Münster Marketing), Medizin, Erziehungswissenschaften und auch ab WS 2021 in der rechtswissenschaftlichen Fakultät). Dieses Jahr haben wir 100 Sportpaten, die sich 1zu1 für Kinder einsetzen (6 Kooperationsschulen in Münster und 2 in Coesfeld). Seit 2012 haben wir 400 Sportpatenkinder gestärkt und 400 Sportpaten an der Universität ausgebildet in empathischen und globalen Kompetenzen.
Das Besondere an dem Sportpatenprojekt ist, dass es institutionalisiertes Ehrenamt ist und für die Sportpatenkinder wie auch die Studierenden eine Win-Win Situation: Es schafft Chancengleichheit für Kinder und bildet gleichzeitig Studierende nach dem psychologischen Konzept von Sportpaten in Empathie und globalen Kompetenzen aus. Es ist eine Win-Win Situation auf mehreren Seiten. Die Kinder werden über das Mentoring und sportliche Aktivitäten gestärkt und gefördert und die Sportpaten erleben praxisnahes Lernen und werden in ihrer Empathie und pädagogischen Handlungsfähigkeit ausgebildet; sie werden für die Diversität im Umgang mit Kindern sensibilisiert und lernen zudem auch den Umgang kultureller Vielfalt kennen. Die Sportpaten profitieren von ihrer Aufgabe und der Übernahme von Verantwortung.
Unser Team ist stärkenorientiert und besteht mittlerweile aus 4 Hauptpersonen, die die Studierenden mit mir gemeinsam ausbilden sowie zwei Forschungswissenschaftlichen Supportern: Prof. Dr. Maike Tietjens aus der Sportpsychologie und Prof. Dr. Till Utesch aus der Erziehungswissenschaft. Mittlerweile hat das Projekt eine Größe erreicht, die sehr großes Engagement erfordert. Aber wir alle sind mit Herzblut dabei.
Im Übrigen sind auch andere Universitäten an dem Konzept und Projekt interessiert, da auch an den Universitäten ein Umdenken stattfindet und in der Ausbildung der Studierenden auch ein Fokus auf empathische und globale Kompetenzen gelegt wird.
Das Sportpatenprojekt ist einmalig: Es ist wissenschaftlich verknüpft, integriert in die Studierendenausbildung. Und dieses Netzwerk von Schule, Uni, Ehrenamt, Unternehmen und Stadt, so wie unser Supporter Andreas Schleichex (Direktor der OECD) sagt, gibt es weltweit bisher in dieser Form noch nicht.
stadt 4.0: Sie sprechen die
globale Dimension des Sportpatenprojekts an. Sie verknüpfen das Projekt mit der
weltweit anerkannten Erklärung der Menschenrechte. Wo genau besteht für Sie die
Verbindung zwischen Artikel 26 der Allgemeinen Menschenrechte und dem Sportpatenprojekt?
Ghanbari: Ich wollte schon immer
für Menschenrechte eintreten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sehr
schnell durchs System fallen kann, auch wenn es auf dem Papier nicht so
aussieht. Jedes Kind hat Chancengleichheit verdient, keiner soll durchs System
fallen können. Deshalb bin ich im Übrigen auch Lehrerin geworden. Ich habe so
die Chance, viele Kinder zu stärken und zu retten.
stadt 4.0: Am Projekt
nehmen im Moment etwa 100 Kinder teil. Wie werden diese Kinder ausgewählt?
Ghanbari: Wir haben ganz viele verschiedene und großartige Kinder. Die Schulen entscheiden unter anderem, welches Kind einen Sportpaten bekommen soll. Es ist „cool“ einen Sportpaten zu haben. Dadurch haben wir eine Bandbreite von ganz verschiedenen Kindern. Es kann unterschiedliche Gründe haben, warum ein Kind beim Sportpatenprojekt dabei ist. Es gibt kein Raster, sondern prinzipiell hat es jedes Kind verdient, einen Sportpaten zu bekommen.
Jedes Kind hat Stärken, an denen sich das Sportpatenprojekt orientiert.
stadt4.0: Warum muss die Sportpatenschaft aus einem Mentor und einem Kind bestehen?
Ghanbari: Das Kind braucht einen Mentor , einen großen Bruder, eine große Schwester. Sportpate ist Psychologie und Empathie pur!. Sportpaten stehen dafür, dass die Paten an die Kinder glauben, sie werden psychologisch und an der Universität ausgebildet und sind der Fels in der Brandung für das Kind! 1zu1 nur für das Kind da zu sein, an dieses zu glauben, in Verbindung mit Sport. Dieses Kind physisch und psychisch stark zu machen, das ist das Ziel einer Patenschaft. Man wächst über ein Jahr und oft noch länger als Team zusammen. Eine 1 : 1 Sportpatenschaft ist etwas Besonderes. Der Sportpate ist ganz allein nur für das Kind da.
Neben den 1 :1 Treffen mit den Sportpatenkindern, haben wir auch Gruppenaktionen (Schlittschuhlaufen, Boxtraining mit Profi-Boxern, Basketball spielen mit ehemaligen Nationalspieler Telekom Basket) alle 5 Wochen mit allen Sportpatenteams. Aufgrund von Covid19 finden die Gruppenaktionen mit allen Teams zur Zeit nicht statt
Es gab einmal ein Kind, das gesagt hat, es wäre im Vergleich zum Sportunterricht so schön, dass man selber über die sportlichen Inhalte entscheiden könne, selbstbestimmt und kooperativ. Das war großartig zu hören.
stadt 4.0: Warum ist
Empathie dabei die Schlüsselkompetenz?
Ghanbari: Empathie kann nicht digital ersetzt werden. Sie unterscheidet uns von Maschinen. Um gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, um globale Kompetenzen zu erreichen, ist eine empathische Kompetenz der erste Schritt. Man erlernt eine Perspektivübernahme.
Stehe ich beispielsweise vor einer Klasse von 28 Schülern, muss ich emphatisch sein. Empathie ist einfach das A und O in der heutigen Zeit.
stadt 4.0: Ist unsere Gesellschaft heute zu wenig emphatisch, und wie können Lehrer*innen zum Empathieaufbau beitragen?
Ghanbari: Wir leben in einer individualistischen Kultur. In dieser Kultur entwickeln wir ein Selbstkonzept, das vor allem auf den eigenen Vorteil, die eigene Leistung bedacht ist. Unser Schulsystem ist auf Leistung ausgelegt. Man kommt nur weiter, wenn man besser ist als andere. Und ja, da fehlt die emotionale Kompetenz, der Schwerpunkt auf Empathie. Wenn man sich überlegt, dass nach der vierten Klasse selektiert wird, ist das aus lernpsychologischer Sicht fatal. Die Kinder, die sehr gut unterstützt werden können, kriegen das ,,Go“ fürs Gymnasium, die anderen nicht. Eine „Eins“ ist eine gute Note. Wenn jedoch den Kindern vermittelt wird, dass eine „Eins“ die einzig wahre Note ist, ist das fatal.
stadt
4.0: Was wäre die Alternative zum
dreigliedrigen Schulsystem?
Ghanbari: Wir hängen hier in Deutschland sehr weit hinterher. Andere Länder haben diesen Absprung längst geschafft, beispielsweise Finnland schon in den 80er-Jahren. Andreas Schleicher, der Direktor der OECD und ein guter Freund und Unterstützter des Sportpatenprojekts, der auch die PISA-Studie durchführt, kritisiert dies auch sehr stark. Neue Gesamtschulprojekte hier in Münster, beispielsweise die Gesamtschule Münster-Mitte oder die Mathilde-Anneke-Gesamtschule zeigen, dass gemeinsames Lernen möglich ist und dass wir nicht in einer selektierten Gesellschaft leben müssen. Inklusion bedeutet: Gemeinsamer Unterricht für alle Kinder. Jeder sollte lernen, seinen eigenen Bildungsweg zu reflektieren und nicht den Blick auf neue Lernformate verweigern.
stadt
4.0: Wie schwer wirkt sich die Corona-Krise für die Chancengleichheit aus?
Ghanbari: Wenn man sich ganz Deutschland oder auch nur NRW anguckt, trifft die Corona-Krise genau die Kinder, die es nicht treffen darf. Häufig sind dies Kinder aus ohnehin benachteiligten Familien. Und hier macht aus meiner Sicht die Politik zu wenig. Es muss ein Umdenken stattfinden. Der Fokus muss auf die Kinder und deren Bildung gelegt werden. Wir machen unsere Kinder durch das Schulsystem zu mündigen Bürgern. Und da sind wir wieder bei der Selektion und der Frage: Wenn man selektiert –kann trotzdem noch jedes Kind zu einem mündigen Bürger werden oder fallen viele dann wieder durch das System?
stadt
4.0: Wo sehen Sie noch Verbesserungsmöglichkeiten für das Sportpatenprojekt?
Ghanbari: Das Projekt entwickelt sich stetig weiter. Als es 2012 begonnen hat, habe ich mir Gedanken gemacht, wie es aufgebaut sein soll. Mit jedem Jahr, mit jeder Rückmeldung aller Beteiligten kamen weitere Aspekte zum Projekt dazu. Wir sind mittlerweile an dem Punkt, dass das Projekt von Münster an weitere Städte weitergegeben werden kann. Es ist skalierbar.
stadt
4.0: Eine abschließende Frage: Sie leben in Münster, was verbindet Sie mit Münster?
Ghanbari: Ich liebe an Münster die historische Altstadt. Die Kultur dahinter, die Geschichte des Westfälischen Friedens und die damit verbundene Bedeutung des Friedens. Die Stadt ist jung und bietet für jede Altersgruppe ein Programm. Die Stadt ist weltoffen. Ich finde Münster ist herzlich und äußerst lebenswert.
stadt4.0 bedankt sich für das tolle Interview mit Frau Dr. Marie-Christine Ghanbari. Wir freuen uns , weiter im Kontakt zu bleiben und wünschen Frau Dr. Ghanbari alles Gute für das von ihr initiierte Sportpatenprojekt. Bedauert haben wir, dass uns, als wir jünger waren, nicht auch so eine engagierte und motivierte Lehrerin zur Seite stand und es damals noch keine Sportpaten gab. Das Projekt gefällt uns ausnehmend gut! Herzlichen Dank für die unseren Lesern und Leserinnen gewährten Einblicke.
Eine Fortsetzung unserer Berichterstattung wird es spätestens im April 2021 geben, wenn der Schirmherr, Sigmar Gabriel, der Oberbürgermeister der Stadt Münster Herr Markus Lewe , prominente Unternehmen und Sponsoren der hiesigen Wirtschaft und die Sportpaten selbst sich an einen „Runden Tisch“ setzen werden (unter dem Motto „Münster kümmert sich“) und diskutieren, wie dieses richtungsweisende Projekt weiter be- und gefördert werden kann. Darauf freuen wir uns sehr.
Sonstige Fotos: SvB für stadt40