Darüber sprachen Brigitte Heeke und Christina Hoppenbrock mit dem Psychologen Prof. Dr. Manfred Holodynski vom Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung und dem Geschäftsführer des Zentrums für Lehrerbildung (ZfL) an der WWU, Dr. Martin Jungwirth.
Vor einigen Tagen haben die Schulen in NRW schrittweise wieder geöffnet. Kommt das noch rechtzeitig für die Schüler, oder hat das wochenlange Homeschooling bereits Schaden angerichtet?
Manfred Holodynski: Ein Teil der Schüler ist sicher nicht glimpflich davongekommen, und zwar vor allem der Teil, der es auch vor Corona schon schwer hatte. Im Hinblick auf die derzeit benötigte digitale Ausstattung und Expertise der Schulen war das Kind bereits vor Corona in den Brunnen gefallen. Wäre man in dieser Beziehung vorher gut aufgestellt gewesen, würde man jetzt besser durch die Krise kommen.
Martin Jungwirth: Die Pandemie dauert bereits rund ein Jahr. Ab Mai 2020 haben wir uns gefragt, was die WWU tun kann. Wie kann man den Schülern helfen? Eine Antwort darauf ist, dass wir das Projekt "Anschluss individuell sichern" der Bezirksregierung unterstützen. Dabei geht es zum einen um Nachholen und Aufholen, aber auch darum, das Selbstlernen der Schüler zu fördern. Das machen wir weiter, mittlerweile in der vierten Runde. Wir helfen beispielsweise, passende Studierende für das Projekt zu finden.
Schauen wir uns zunächst die psychischen Auswirkungen an. Wie kommen Kinder und Jugendliche mit den coronabedingten Einschränkungen zurecht?
Manfred Holodynski: Dazu gibt es eine aktuelle Studie vom Universitätsklinikum Hamburg, die sogenannte COPSY-Studie. Die Daten stammen aus der Phase des ersten Lockdowns. Sie zeigen unter anderem: 70 Prozent der 7- bis 17-Jährigen fühlen sich durch die Pandemie belastet. Zu den negativen Auswirkungen des Lockdowns zählen beeinträchtigte Freundschaften, eine ungesündere Lebensweise beispielsweise durch deutlich weniger Bewegung und eine Zunahme von Sorgen und Ängsten. Grundschüler sind stärker betroffen als Schüler der Sekundarstufe. Auch die Zahl der psychosomatischen Symptome hat zugenommen: Kopf- und Magenschmerzen sowie Schlafprobleme. Besonders stark sind die Beeinträchtigungen bei Familien mit geringem Bildungsniveau. Weitere Faktoren, die sich negativ auswirken, sind kleine Wohnungen, Migrationshintergrund und insbesondere ein schlechtes Familienklima. Bei hohem Bildungsniveau, sozial gutgestellten Haushalten und gutem Familienklima werden Beeinträchtigungen abgepuffert.
Und wie sieht es mit den schulischen Leistungen aus?
Manfred Holodynski: Es gibt noch keine Studien zur Auswirkung des Lockdowns auf die Leistungsentwicklung. Aber man kann eine Analogie zur Leistungsentwicklung in schulfreien Zeiten, sprich Sommerferien, ziehen. Leistungsstarke vergessen nicht so viel wie Leistungsschwache, Leistungsstarke holen auch schneller auf.
Martin Jungwirth: Wir kennen das Problem und arbeiten mit der Stadt zusammen, um das Konzept "Anschluss individuell sichern" auszuweiten und so die Schüler weiter zu unterstützen.
Kann man die Lücken überhaupt jemals wieder schließen, ohne nicht pauschal zumindest die jüngeren Jahrgänge ein ganzes Jahr wiederholen zu lassen?
Manfred Holodynski: Nein, das wäre zu drastisch und außerdem kein zukunftsfähiges Konzept für mögliche weitere Pandemien. Aber es wird nicht ohne zusätzlichen Zeitaufwand gehen. In der Diskussion sind Frühlings- oder Sommerschulen für Kinder mit Lernrückständen. Doch wer soll das organisieren und durchführen? Man müsste die Gelegenheit nutzen, um die Lehrpläne zu verschlanken. Die ausgewählten Themen könnte man in der verbleibenden Zeit gründlich bearbeiten. Vor allem für die Abiturienten wäre das wichtig. Doch von den Kultusministerien scheint keine Vorgabe angedacht zu sein. Die Lehrer müssen also selbst entscheiden, an welchen Stellen sie kürzen. Die Lehrer, mit denen ich gesprochen habe, sehen das als Problem. Wenn der prüfungsrelevante Lernstoff nicht offiziell eingeschränkt wird, sind Lehrkräfte genötigt, den verbliebenen Lernstoff schneller durchzunehmen. Das geht wieder auf Kosten der Leistungsschwächeren. Auch wenn die Aufarbeitung des Lernstoffs in verstärkten Hausarbeiten erfolgen soll, trifft das die Leistungsschwächeren und die Kinder aus bildungsfernen Familien wieder stärker als die anderen Kinder.
Martin Jungwirth: Wir versuchen, einen kleinen Beitrag zu leisten. Am liebsten wäre es uns, nach der vollständigen Öffnung der Schulen genug Studierende zu haben, die die Schüler im Regierungsbezirk in Vierergruppen unter Anleitung der Lehrer betreuen können. Davon erhoffen wir uns auch, dass Studierende ihre Pflichtpraktika ohne Wartezeiten machen können. Theoretisch ist das zwar auch in Distanz möglich, aber nicht an allen Schulen.
Um in Zeiten von Corona überhaupt Schulstoff durchnehmen zu können, sind digitale Medien essenziell. Hat die derzeit geforderte Digitalisierung die Schulen und Schüler tatsächlich kalt erwischt?
Manfred Holodynski: Ja. An vielen Schulen fehlt es an allem, nur einige Schulen sind gut aufgestellt. Die Bildungsbürokratie hat sich mit den Schulen, ihren Lehrkräften und Schülern erst so richtig mit dem Digitalpakt Schule auf den Weg gemacht. Der ist aber seit der Absichtsbekundung im Jahr 2018 schleppend angelaufen, angefangen beim Ausbau der Infrastruktur bis hin zur Einrichtung eines Lernmanagementsystems für jede Schule wie zum Beispiel "Logineo" für das Land NRW. 2019 hatten laut einer forsa-Umfrage beispielsweise 63 Prozent der Schulen noch kein schnelles Internet. Es fehlt an Notebooks für Lehrkräfte und Schüler, jede Schule bräuchte eigentlich einen eigenen IT-Administrator, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Digitalisierung der Schulen ist in ihren Anfängen.
Martin Jungwirth: Die Lehrerbildung an den Universitäten ist zum Glück schon weiter. 2018 und 2019 haben wir eine Ringvorlesung zum Thema "Digitalisierung in der Lehrerbildung" ausgerichtet. Dabei kam heraus: Jedes Fach hat sich auf den Weg gemacht. Das Thema Digitalisierung spielt mittlerweile überall eine Rolle, auch vor Corona schon. In der zweiten Phase des Referendariats ist das Thema ohnehin komplett angekommen. Die Studierenden haben WLAN und digitale Boards, und das bereits während ihrer Ausbildung.
Selbst wenn die Technik vorhanden ist: Man muss sie auch richtig einsetzen …
Manfred Holodynski: Da gibt es eine große Streuung unter den Lehrkräften. Wer vor Corona nicht mit der Zeit gegangen ist, muss sich derzeit komplett umstellen. Jüngere Lehrkräfte gehen oft wie selbstverständlich mit der Technik um und haben auch über die Universitäten schon viel zum Thema digitale Lehre mitbekommen. Wir sehen es, verstärkt durch Corona, derzeit in der Lehrerbildung an der WWU. Die digitale Lehre läuft deutlich besser als erwartet. Die Generation, die das jetzt im Studium mitmacht, wird – hoffentlich – keine Angst mehr vor dem Einsatz digitaler Technik im Unterricht haben.
Martin Jungwirth: Stimmt. Wir beobachten in der Didaktik bereits Entwicklungen, jedes Fach hat seine eigenen Perspektiven. Zum Beispiel: Was heißt Digitalisierung einerseits für das Fach Englisch, aber auch für die individuelle Sprachfähigkeit des Lernenden? In einem neuen Projekt zusammen mit der FH Münster und der Saxion Hoogeschool Enschede/Deventer schauen wir uns zudem die Digitalisierung in der Bildung an, sodass wir grenzüberschreitend voneinander lernen können. Das hatten wir bereits vor dem ersten Lockdown beantragt. Es passt deshalb jetzt gut.
In Zeiten von Corona bedeutet Digitalisierung häufig Distanzunterricht.
Martin Jungwirth: Man kann über die Pandemie meckern, aber die Digitalisierung geht dadurch schneller voran. Für den Distanzunterricht bedeutet das: Viele Lehrkräfte trauen sich seit Monaten nun mehr zu, sowohl was die technischen als auch methodischen neuen Anforderungen angeht. Einfach weil es nun einen konkreten Anwendungsfall gibt.
Manfred Holodynski: Distanzunterricht ist jedoch wie fortgesetzte Hausaufgaben. Er erfordert selbstreguliertes Lernen und viel Disziplin, diese Fähigkeiten sind bei den Kindern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Leistungsschwächeren, die schon vorher kaum Hausaufgaben gemacht haben, tun sich besonders schwer. Der Bildungsstand der Eltern spielt auch hier wieder eine große Rolle: Eltern mit hoher Bildung haben eher die Motivation und die Fähigkeit, ihren Kindern zu helfen und ihnen eine äußere Struktur beim Lernen zu geben. Für Grundschüler ist Distanzunterricht eine Katastrophe. Sie beherrschen vom Entwicklungsstand her das selbstregulierte Lernen noch nicht. Wenn nicht die Eltern für eine häusliche Struktur des Lernens sorgen, kann man davon ausgehen, dass die Kinder zu Hause kaum etwas lernen.
Wird die Corona-Pandemie die Lehrerbildung und die Bildungswissenschaft auch langfristig verändern?
Martin Jungwirth: Davon gehen wir aus. Von Studierenden erhalten wir die Rückmeldung, dass die Uni sich gut kümmert. Im September richten wir erneut eine Tagung aus mit dem Thema "Digitalität und Diversität in der Lehrerbildung". Dabei fragen wir sehr konkret, was zu tun ist, um diese Bereiche weiter auszubauen.
Manfred Holodynski: Ja. Wir haben es erprobt und erachten den Einsatz der digitalen Medien in der Lehre für praktikabel und chancenreich. Ob Videokonferenzen, der Umgang mit Lernmanagementsystemen oder andere digitale Lernformate – es gibt keinen Weg mehr zurück, diese Formate werden auch in Zukunft in der Lehrerbildung eine Rolle spielen. Unser eigener digitaler Unterricht an der Uni ebnet den zukünftigen Lehrkräften den Weg. Hoffentlich sind auch die Schulen in absehbarer Zeit besser ausgestattet. Die zukünftigen Lehrkräfte werden auf die digitale Lehre jedenfalls besser vorbereitet sein.
WWU Münster
Foto: Symbolbild, Thomas Park - Unsplash. In Zeiten von Corona lernen Kinder häufig allein zu Hause. Digitale Medien sind dabei von zentraler Bedeutung.