Nach dem erzwungenen Rücktritt des langjährigen Präsidenten Evo Morales hat sich in Bolivien ein Macht-Vakuum ergeben. In der Nacht zum Montag ereigneten sich in den Städten La Paz und El Alto teils gewalttätige Kundgebungen von Gegnern und Anhängern des 60-jährigen Ex-Staatschefs. Die von der Verfassung vorgesehenen Nachfolger konnten die Amtsgeschäfte nicht übernehmen, weil sie ebenfalls ihren Rücktritt erklärt hatten. Die Oppositionspolitikerin Jeanine Añez, zweite Vize-Präsidentin des bolivianischen Senats, beanspruchte den Posten der Übergangspräsidentin für sich.
Sie wolle als Übergangspräsidentin lediglich dafür sorgen, dass es Neuwahlen gebe, sagte Añez dem Privatsender Unitel. Es wurde aber erwartet, dass zur Klärung der Zuständigkeiten zunächst eine Parlamentsabstimmung stattfindet. Die Regierungen Kolumbiens und Mexikos forderte eine Dringlichkeitssitzung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). OAS-Generalsekretär Luis Almagro forderte, die Krise in Bolivien müsse beigelegt werden, ohne den "verfassungsgemäßen" Rahmen zu sprengen.
UN-Generalsekretär António Guterres äußerte sich "tief besorgt" und rief zum Gewaltverzicht auf. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini mahnte die Konfliktparteien zu "Zurückhaltung und Verantwortung", damit das Land friedlich zu "glaubwürdigen" demokratischen Neuwahlen geführt werden könne.
In Berlin sagte Regierungssprecher Steffen Seibert, Morales habe mit seinem Rücktritt den Weg zu Neuwahlen freigemacht. Dies sei ein "wichtiger Schritt hin zu einer friedlichen Lösung". Das Auswärtige Amt aktualisierte seine Reisehinweise und riet von "nicht erforderlichen Reisen" nach Bolivien ab.
Russland prangerte einen "Putsch" gegen Morales an, der seit 2006 an der Spitze des südamerikanischen Landes gestanden hatte. Kritik an dem Machtwechsel äußerten die linksgerichteten Regierungen mehrerer lateinamerikanischer Staaten, darunter Mexiko, Kuba, Argentinien und Venezuela.
Am Montagmorgen, wenige Stunden nach seiner Rücktrittsankündigung, meldete sich Morales via Twitter noch einmal zu Wort. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Region Chapare im Zentrum des Landes. Seine Gegner beschimpfte Morales als "Rassisten und Putschisten" - und forderte sie auf, Bolivien zu befrieden: "Sie sollen die Verantwortung für die Befriedung des Landes übernehmen und politische Stabilität garantieren."
Nachdem er auch den Rückhalt der Armee und der Polizei verloren hatte, hatte der linksgerichtete Präsident am Sonntag nach wochenlangen Protesten seinen Rücktritt erklärt. Danach strömten in La Paz tausende Menschen auf die Straßen, schwenkten die bolivianische Fahne und feierten seinen Abgang mit Böllern.
In der Nacht zum Montag eskalierte die Situation jedoch. Wie örtliche Medien berichteten, wurden in La Paz sowie im nahegelegenen El Alto unter anderem Busse sowie die Häuser mehrerer prominenter Gegner des linksgerichteten Ex-Staatschefs in Brand gesetzt. In beiden Städten patrouillierten später Militäreinheiten.
20 bolivianische Regierungsvertreter und Abgeordnete suchten Zuflucht in der mexikanischen Botschaft in La Paz. Mexiko bot Morales Asyl an.
Auslöser für die wochenlangen Proteste in Bolivien war die umstrittene Präsidentenwahl vom 20. Oktober. Morales, der erste indigene Staatschef Boliviens, war für eine vierte Amtszeit angetreten. Die Verfassung hätte eine weitere Kandidatur eigentlich nicht zugelassen, das Verfassungsgericht gestand ihm dies aber dennoch zu.
Der vom Wahlgericht verkündete Wahlsieg von Morales bereits in der ersten Runde wurde von der Opposition als Betrug angeprangert und nicht anerkannt. Am Sonntagabend wurden die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, sowie ihr Stellvertreter festgenommen. Polizeichef Yuri Vladimir Calderón gab bekannt, dass insgesamt 25 Vertreter der Wahlbehörden auf Antrag der Staatsanwaltschaft festgenommen worden seien. Er kündigte an, die Polizei werde künftig Präsenz zeigen und nötigenfalls einschreiten.
Mogherini erklärte die grundsätzliche Bereitschaft der EU, bei einer Neuwahl eine Beobachtermission zu entsenden - "wenn die Bedingungen stimmen". Bolivien müsse "den Weg zu glaubwürdigen Wahlen finden, die bald stattfinden können".
Bei den Protesten der vergangenen Wochen wurden in Bolivien drei Menschen getötet und mehr als 250 verletzt.
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Francisco JARA / © Agence France-Presse