So rar, dass Indien und Südafrika eine Initiative zur Lockerung des Patentschutzes gestartet haben, die derzeit in der Welthandelsorganisation diskutiert wird. Doch wie zielführend ist das? Im Interview erklärt Reto Hilty, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb, warum er den Griff nach dem Patentschutz für gefährlich hält.
Mit ihrem Antrag auf vorübergehende Aussetzung des Patentschutzes für
Impfstoffe rütteln Indien und Südafrika am internationalen Patentrecht.
Über 100 Länder unterstützen die Initiative im Rat der
Welthandelsorganisation (WTO), gefolgt von Menschenrechtsorganisationen
und dem Vatikan. Professor Hilty, kann man den Patentschutz weltweit
einfach so aussetzen?
Nicht wirklich. Ausgesetzt werden sollen auch nur gewisse Verpflichtungen der WTO-Mitgliedstaaten, die sich aus dem TRIPS-Abkommen ergeben, dem Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums. Konkret müssten dann Patente für Erfindungen im Zusammenhang mit Covid-19-Impfstoffen nicht mehr respektiert werden. Käme der Antrag durch, könnte also jeder einzelne Mitgliedstaat selbst über das Aussetzen des Patentschutzes entscheiden, wobei primär jene davon Gebrauch machen dürften, die sich die Impfstoffe gegenwärtig nicht leisten können. Denn ohne markant billigeren Zugang wird sich die Lage für sie auch dann nicht ändern, wenn dereinst ausreichend Impfdosen vorhanden sind. Das Problem ist nur, dass ein Aussetzen des Patentschutzes im eigenen Land nichts bringt, wenn dort kein Unternehmen technisch in der Lage ist, solche Impfstoffe herzustellen.
Welche Patente sind betroffen?
Ironischerweise geht es nicht nur um Patente, die sich auf die Covid-19-Impfstoffe beziehen. Solche spezifischen Patente dürften inzwischen zwar angemeldet sein. Was genau angemeldet wurde, wissen wir aber noch nicht, denn die Veröffentlichung erfolgt jeweils erst 18 Monate später. Die Prüfung, ob die Patentvoraussetzungen erfüllt sind, dauert noch wesentlich länger, weswegen frühestens in drei Jahren mit ersten Patenterteilungen für die neuen Impfstoffe zu rechnen ist.
Entscheidend ist nun aber, dass gerade die modernen Impfstoffe, insbesondere jene von BioNTech/Pfizer und Moderna, welche alle auf mRNA basieren und sich gut an Mutationen anpassen lassen, auf Technologien beruhen, die ihrerseits durch bereits erteilte oder noch zu erteilende Grundlagenpatente geschützt sind. Diese Technologien haben jedoch noch ganz andere, vielversprechende Anwendungsbereiche, namentlich in der Krebstherapie. Wollte man also den Patentschutz für die Impfstoffe aussetzen, müsste dies auch für derartige Grundlagenpatente der Fall sein, denn sie werden bei der Herstellung mitbenutzt. Dass man damit die Anreize für die Pharmaindustrie erhöhen würde, weiterhin in solche Zukunftstechnologien zu investieren, ist kaum anzunehmen. Wer an dieser Stelle am Patentschutz rüttelt, spielt also mit dem Feuer.
Daneben wird auch die Vergabe von Zwangslizenzen an Produzenten diskutiert, wie zuletzt im Bundestag auf Initiative der Linken. Wie sinnvoll ist das?
Zwangslizenzen sind im Grunde nichts Neues. Das TRIPS-Abkommen erlaubt ihre Erteilung unter gewissen Voraussetzungen. Nebst einer außerordentlichen Situation, wie sie bei einer Pandemie natürlich vorliegt, muss sich ein Patentinhaber weigern, vertragliche Lizenzen zu erteilen. Eine Zwangslizenz muss allerdings eingeklagt werden. Das kann lange Gerichtsverfahren nach sich ziehen. Alternativ und schneller kann ein Staat das Benutzungsrecht auch direkt von sich aus geeigneten Herstellern erteilen. Das ergibt Sinn, wenn eine Unterversorgung zeitnah behoben werden muss. Allerdings nützt dies Ländern, die nicht über entsprechende eigene Industrien verfügen, ebenso wenig wie das Aussetzen des Patentschutzes.
Es soll aber Länder geben, in denen es entsprechende Industrien gibt und die Interesse hätten. Was ist mit denen?
Die Vorstellung, dass es einfach für jeden Impfstoff ein Patent gibt, für das man eine Benutzungsanordnung erteilten könnte, entspricht kaum der Realität. Wenn es um ein ganzes Geflecht von involvierten oder sogar erst angemeldeten Patenten geht, und möglicherweise auch unterschiedliche Inhaber betroffen sind, erfordert das komplexe Abklärungen, damit solche staatlichen Eingriffe in den Markt am Ende zielführend sind. Wenn stattdessen erreicht werden kann, dass die beteiligten Akteure, die die Wettbewerbsverhältnisse üblicherweise besser kennen als Staatsstellen, untereinander kooperieren und sich die notwendigen Lizenzen auf vertraglicher Basis erteilen, ist dies im Grunde effizienter.
Beruht die Impfstoffknappheit denn nicht gerade auf einer zu zurückhaltenden Lizenzierungspraxis?
Inzwischen sind ja eine ganze Reihe von Auftragsproduktionen auf der Basis von Lizenzen bekannt geworden. Natürlich glänzt diese Branche vielfach nicht durch Transparenz. Aber ich würde deswegen nicht von vornherein unterstellen, dass sich jene Pharmaunternehmen, die die Impfstoffe entwickelt haben, nun weigern, unabhängigen Herstellern Lizenzen zu erteilen. Schon die Entwicklung der Impfstoffe basierte auf bislang beispiellosen Kooperationen zwischen Konkurrenten. Nun geht es für jene, deren Impfstoffe zugelassen sind, darum, Marktchancen zu nutzen. Denn der Wettbewerb verschärft sich mit jedem neuen Impfstoff ja zusehends. Das schafft durchaus die richtigen Anreize.
Welche?
Kein Unternehmer überlässt das Feld gerne Konkurrenten. Wenn eigene Produktionskapazitäten fehlen, lassen sich Marktanteile durch die Einbindung von Lizenznehmern sichern. Nur: So viele geeignete Hersteller für die modernen Impfstoffe gibt es im Moment noch gar nicht. Anschaulich sind die Kooperation von BioNTech/Pfizer mit Novartis oder Sanofi – immerhin Weltkonzerne. Sie gehören zu den wenigen, die überhaupt in der Lage sind, Impfdosen auch nur abzufüllen. Allein diese Umstellung jeweils eines Werkes erfordert bei beiden Monate. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens auch, dass es ohne Patente kaum zu derartigen Kooperation zwischen ansonsten schärfsten Wettbewerbern kommen würde. Denn bei technisch komplexen Produkten sind Patente gerade die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit. Sie schützen eben nicht nur gegen Nachahmer, sondern sie schaffen auch Rechtssicherheit dafür, dass die eigene Technologie von einem Lizenznehmer entsprechend der vertraglichen Vorgaben genutzt wird.
Millionen Menschen in den Entwicklungsländern können sich selbst die einfachsten Medikamente nicht leisten. Das gilt auch für Impfungen wie jetzt gegen Covid-19. Ist es nicht ein Gebot der Menschlichkeit, dafür den Patentschutz zu lockern?
Das Gefälle zwischen privilegierten und unterprivilegierten Ländern ist in der Tat besorgniserregend. Wer die Probleme auf das Patentrecht reduziert und die Verantwortung der Pharmaindustrie in die Schuhe schiebt, macht es sich allerdings zu einfach. Derzeit kämpfen doch alle – und die EU an vorderster Front – in erster Linie mit faktischen Problemen. Diese lassen sich auch nicht von heute auf morgen lösen. Wenn dereinst ausreichend Impfdosen produziert werden können, wird es jedenfalls nicht das internationale Patentrecht sein, das einer weltweiten Impfung im Wege steht.
Wie kommen denn weniger entwickelte Länder zu den benötigen Impfdosen?
Das TRIPS-Abkommen würde es den Mitgliedstaaten erlauben, eine besondere Form der Zwangslizenz zu statuieren, damit Pharmazeutika ausschließlichen für den Zweck des Exports in jene am wenigsten entwickelten Länder hergestellt werden dürfen, die dazu nicht selbst in der Lage sind. Die Schweiz hat beispielsweise eine solche Regelung bereits 2008 eingeführt. Nur ist es naiv zu glauben, ein Hersteller, von dem seine Aktionäre Gewinne erwarten, habe Interesse an derart brotlosen Geschäften. Damit läuft diese Regelung leer, denn die Marktmechanismen allein vermögen solche Probleme nicht zu lösen. Die reichen Staaten haben ja nicht ohne Grund bereits für die Entwicklung der Impfstoffe substantielle Mittel beigesteuert. Das ist großartig und hat sicher viel Positives bewirkt. Aber wenn davon nicht nur die eigene Bevölkerung profitieren soll, werden unweigerlich weitere Kosten anfallen, um auch wirtschaftlich schwache Staaten zu versorgen. Die EU kann da hoffentlich bald viel Gutes tun. Wenn sie alle Impfdosen erhält und auch abnimmt, die sie bestellt hat, verfügt sie über weit mehr, als sie selbst benötigt. Auch der Vatikan könnte vielleicht seine Schatullen öffnen, statt auf die Pharmaindustrie zu zeigen.
Wäre am Ende nicht gerade die Pharmaindustrie der Profiteur?
Gewiss soll sich niemand an der Pandemie eine goldene Nase verdienen, auch die Pharmaindustrie nicht. Aber die staatlichen Gelder müssen ja auch nicht bedingungslos ausgegeben werden, sondern es sind bestimmte Vorgaben möglich. Insoweit herrscht allerdings nicht nur bei der Pharmaindustrie wenig Transparenz, sondern auch bei den öffentlichen Geldgebern. Die Tatsache, dass in den USA proportional zu den Einwohnerzahlen inzwischen bereits etwa dreimal so viele Menschen geimpft sind wie in Deutschland oder in der EU insgesamt, spricht jedenfalls dafür, dass die US-Regierung mit der eigenen Industrie schon bei der Mittelvergabe weitsichtiger verhandelt hat als andere Regierungen.
Welche Lektionen hält die Covid-19-Krise noch bereit?
Wir haben einen beispiellosen Kraftakt erlebt, der deutlich macht, was sich im Gesundheitsbereich bewirken lässt, wenn die Entschlossenheit dazu vorhanden ist. Es gibt auch andere Bereiche, in denen das notwendig wäre. So beklagen wir seit langem, dass die bekannten Antibiotika gegen immer mehr resistente Bakterien nicht mehr wirken. Es werden aber kaum noch neue Medikamente in diesem Bereich entwickelt. Das ist kein Zufall. Denn es handelt sich um Massenmedizin, wo die Preise aus sozialpolitischen Erwägungen möglichst tief gehalten werden. Tatsächlich bräuchte es in diesem weitgehend ausgeforschten Bereich wohl neue Innovationsschübe. Damit sind jedoch erhebliche Investitionsrisiken verbunden. Solche geht die Pharmaindustrie durchaus ein – aber nur, wenn sie am Ende damit rechnen kann, lohnende Gewinne zu erzielen. Hier kommt die öffentliche Hand ins Spiel. Mit einem sinnvoll koordinierten Einsatz ausreichender staatlicher Mittel lassen sich sehr wohl Forschungsanreize setzen. Nur eben hat die Covid-19-Krise auch gezeigt, dass klare Vereinbarungen mit der Pharmaindustrie erforderlich sind, damit die Forschungsergebnisse der Allgemeinheit am Ende tatsächlich und zu vertretbaren Konditionen zur Verfügung stehen.
Interview: Michaela Hutterer
Max Planck Gesellschaft vom 09.03.2021