Ich wohne im vierten Stock, acht Treppen muss ich zurücklegen. Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert, die Taschen ließ ich fallen, um mich am Treppengeländer festzuhalten und nicht zu stürzen.
Zwar verteilten sich Apfelsinen, Äpfel und mehr im Treppenhaus, aber ich blieb unverletzt. Das Treppengeländer erfüllte seinen Zweck.
Die Analogie dieser Szene in Bezug auf die aktuelle Corona-Situation in Deutschland, wurde mir erst am Abend klar, als die ,,Tagesthemen“ den Fernseher füllten.
Die zentralen Themen der Sendung lauteten: Stufenplan für Lockerungen, Schnell- und Selbsttest und Impftempo. Mal wieder….
Was wäre eine Treppe ohne Geländer? Was ein Aufzug ohne Notstopp? Genau –ein Sicherheitsrisiko. Oder man drückt sich in Worten der „politisch Verantwortlichen“ aus und spricht von einem ,,Pilotprojekt“.
Letzten Mittwoch trafen sich die Länderchefs mit Bundeskanzlerin Merkel zu einer weiteren Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), um den Weg heraus aus dem seit über 100 Tagen andauernden Lockdown zu beschließen. Ein fünfstufiger Stufenplan ist dann das Ergebnis. Es soll ein Plan sein, der einen sicheren Austritt aus den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bietet.
Sicher ist jedoch nur eins: Wir werden Stufe fünf mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erreichen. Der Grund dafür ist im übertragenen Sinne: das Fehlen eins absichernden Geländers.
Aber der Reihe nach. Seit Wochen pendelt die deutschlandweite Inzidenz zwischen 60 und 70. Der bis 7.März gegoltene Lockdown verlor seine Durchschlagskraft. In den letzten Wochen stabilisierten sich Fallzahlen, sanken jedoch nicht weiter. Hinzu kommt die Gefahr der englischen Virusmutation B1.1.7. Es ist mittlerweile erwiesen, dass die Variante deutlich ansteckender ist und in kurzer Zeit zur dominierenden Virusvariante wurde. Der Reproduktionswert von B1.1.7 lag allein im Lockdown bei circa. Eins Komma Zwei.
Und trotzdem wird gelockert. Wie kann das funktionieren? Welches Geländer soll uns vor dem Sturz bewahren?
Die MPK antwortete mit der Einführung von Schnell- und Selbsttests sowie einer Erhöhung des Impftempos. Jeder Bürger und jede Bürgerin sollte sich ab dem 8.März kostenlos einmal die Woche kostenlos testen lassen dürfen.
Der Ansatz war richtig– die Durchführung mangelhaft.
Der Kassenärztliche Bundesverband sprach von einem ,,Testchaos“. Niedergelassene Ärzte und Apotheken, die in der Breite der Bevölkerung die Schnelltests durchführen sollten, wussten bis zum Start am Montag davor nicht, von wem und in welchem Umfang sie die Tests erhalten sollten.
Mittwoch sollte das erste Mal die neu eingerichtete ,,Taskforce Testlogistik“ unter Leitung von Verkehrsminister Scheuer und Gesundheitsminister Spahn mit Vertretern der Bundesländer und Wirtschaft zusammenkommen, um die Verteilung von Schnell - und Selbsttest zu koordinieren.
Gut so,– bloß warum nicht schon sofort nach Bekanntgabe dieser Maßnahme oder noch besser, im letzten Oktober, als die zweite Welle unausweichlich auf Deutschland niederzustürzen drohte?
Um eine umfassende Teststrategie aufzubauen, brauche man bis Ende März, so Merkel. Damit ist alles gesagt.
Ich bin zu jung, um alle bürokratischen Hürden zu überblicken, die eine solche Aussage rechtfertigen. Ich bin jedoch auf der anderen Seite schon zu alt, um nicht zu merken, dass genau diese Hürden das Problem darstellen. Es fehlt an Pragmatismus, Tempo, Entscheidungs- und Durchsetzungswille.
Es fehlt an Weitsicht und Strategie. Es fehlt an der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Fehler einzugestehen. Und an der Bereitschaft, andere Länder als Vorbilder für eine gelungene Corona-Politik zu sehen.
Und so drehen wir uns im Kreis. Wir lockern zu schnell, um uns abzusichern. Wir erlauben wieder mehr private Treffen, obwohl die Voraussetzungen dafür nichtgeschaffen worden sind, das Geländer, das uns vor einem (Rück-)Fall bewahrt existiert nicht.
Wie könnte denn eine Absicherung aussehen? Ganz einfach: testen, testen, testen und impfen, impfen, impfen. Österreich schafft durch eine unvergleichliche Testoffensive ein weitgehendes ,,normales“ gesellschaftliches Leben zu ermöglichen und bringt die Schüler*innen und Lehrer*innen somit weitgehend sicher zurück in die Schulen.
Die USA haben mittlerweile knapp 80 Millionen Bürger*innen geimpft, bis Ende Mai will man durch sein, die Briten 22 Millionen Bürger*innen.
Und Deutschland? Wir haben Sieben Komma Neun Millionen Bürger*innen geimpft und testen – ja wie oft eigentlich? Wir lockern ohne Geländer.
Impfungen, Testungen und eine einheitliche digitale Infrastruktur zur Pandemiebekämpfung würden uns nicht vor Stürzen bewahren aber das Risiko eines schweren Unfalls vermieden.
Die Rede ist nicht nur von körperlichen Schäden, sondern auch von Long-Covid- Folgen: Politikresignation, Verdrossenheit und Müdigkeit. Die Politik muss aufwachen! Sie muss die Konsenskultur der vergangenen Jahre zumindest in dieser Krisenzeit hinter sich lassen und für sichtbare Erfolge sorgen. Oder um es bildlich auszudrücken: Sie muss den Bürger*innen ein Geländer bieten, an dem sie sich auf dem Weg zurück in die Freiheit orientieren können.