stadt40: Erzählen Sie doch bitte zunächst von sich - welche Erfahrungen haben Sie dazu bewegt, Ihr Buch „Die böse Seite des Glücks“ zu schreiben?
Holberg: Meine Ausbildung hatte ich im Lehrerseminar Duisburg absolviert. Nach der Zusammenführung von Ost- und Westdeutschland wurden massive Schulden gemacht, um die Wiedervereinigung zu finanzieren. Tatsächlich sind Zahlen von bis zu 400 Milliarden DM genannt worden. Dadurch ist vieles andere heruntergefahren worden, unter anderem auch das Geld für den Schuldienst.
In meinem Seminar waren wir fast 100 Personen und nur zwei oder drei erhielten eine Stelle. Daher suchte ich nach Alternativen und nahm die Chance wahr, im Ausland zu arbeiten. Man beauftragte mich, ab Mitte 1994 in Bulgarien an einem bilingualen Gymnasium Chemie und Biologie zu unterrichten. Vorher bekamen wir einige Informationen, aber was tatsächlich da los war, wussten wir nicht.
Zu der Zeit herrschte in Bulgarien eine „Organisierte Kriminalität“ mit sehr üblen Methoden. Alles wurde von der Mafia kontrolliert. Zum Beispiel standen sämtliche Geschäfte unter ihrem „Schutz“ und es gab bestimmte Abzeichen, die überall klebten. Wir hatten Autos zur Verfügung und uns wurde gesagt, wir sollten uns bei der Mafia versichern lassen. Der damalige Direktor meiner Schule hatte dann einen Vorschlag. Er meinte: „Du kannst die Garage hier auf dem Schulgelände zum Parken nutzen - ohne Bezahlung.“ Das Schulgelände war hermetisch abgeriegelt und von Wachhunden bewacht. Somit hatten wir schon gleich zu Beginn ein unsicheres Gefühl, zumal einige von uns, die mit dem Auto angereist sind, bereits beider Hinfahrt überfallen wurden.
stadt40: Sie wurden über das Kölner Amt nach Bulgarien vermittelt und haben schoneinige Erlebnisse geschildert. Ihr Buch „Die böse Seite des Glücks“ beschreiben Sie als einen Tatsachenroman. Beruht Ihr Roman ausschließlich auf persönlichen Erfahrungen oder was sonst hat Sie zu diesem Buch motiviert oder gar inspiriert?
Holberg: Es ist so, dass man dieses Unrecht erst einmal wahrnimmt und daraus auch Befürchtungen für die eigene Existenz entstehen. Wir erlebten immer wieder Überfälle auf Kollegen. Auf sie wurde geschossen oder sie wurden aus dem Wagen gerissen und beklaut. Schläge von den Angreifern ergaben teils starke Verletzungen.
Ich persönlich habe zunehmend hinterfragt: Wie ist so etwas möglich in so einer unfassbaren, aggressiven Art und Weise? Um durch Einheimische Informationen zu bekommen, lernte ich möglichst schnell die bulgarische Sprache.
stadt40: Wo genau in Bulgarien ist Ihnen das, was Sie beschreiben, geschehen? War das eher abgelegen oder ist Ihre Erfahrung mehr allgemein, dass dort viel Kriminalität herrschte?
Holberg: Mein ehemaliger Wohnort Lowetsch liegt in Zentralbulgarien, etwa 150 Kilometer von Sofia entfernt. Aber da wir viele Seminare auswärts hatten, bin ich im ganzen Land gereist. Durch meinen freundschaftlichen Kontakt zum Rektor, der gut vernetzt war, erfuhr ich, inwieweit die Politik mit den Mafiakreisen gemeinsame Sache machte, um Profite zu generieren. Sogar das Bankensystem war mit einbezogen. Viele Gelder von Mafiabossen wurden ins Ausland transferiert, zum Beispiel in die Schweiz. Da fragte keiner nach: „Wie sauber ist das Geld?“
Auch historisch gesehen gab es bereits solche Abläufe. Zum Beispiel im Dritten Reich, als Hitler Kapital brauchte, um seine Kriegsmaschinerie zu bezahlen. Er ließ vor allem Raubgold in die Schweiz bringen und gegen Devisen eintauschen. Im Laufe meiner Bulgarienzeit habe ich entsprechende Zeitungsberichte verfolgt. Zahlreiche Mafiaclans machten Geld am Schwarzen Meer und transferierten es ins Ausland. Aufgrund dieser Korruption und sonstiger Misswirtschaft zerbröckelte die Produktivität im ganzen Land, da horrende Gelder auch aus den Betrieben gezogen wurden.
Anfang 1997 hatten die Bürger ein Monatsgehalt von umgerechnet 10 DM, wovon keiner mehr leben konnte... Es folgten sehr große Aufstände, wie wir sie heutzutage aus Weißrussland kennen. Die Menschen forderten den Rücktritt der damaligen Macht, der kommunistischen Partei. Erst nach dem Stürmen des Parlaments gab die Führung auf und mithilfe von Demokraten und der EU kam die Wirtschaft wieder in Gang.
Viele Mafiagelder flossen aus dem Ausland wieder zurückund zwar besonders in den Tourismus. Auf diese Weise wurde das Schwarze Meer schnell zum neuen Mallorca, wo es für Urlauber teurer wurde...
stadt40: Da möchte ich ein wenig provokant nachhaken und Sie fragen, ob dies nichtauch Möglichkeiten bietet. Bessert sich dadurch nicht auch die Lage in Bulgarien?
Holberg: Natürlich ist es schön für alle Bürger, davon zu profitieren ... Aber die Verantwortlichen hatten vorher großes Leid erzeugt, viele Tote durch Hunger oder durch schlimmste Verbrechen. Wieder einmal wurden solche Schurken kaum oder nicht bestraft. Zu viele kommen einfach davon und leben danach weiter im Luxus.
stadt40: Wie schon anklang, beruht Ihr Buch auf persönlichen Erfahrungen und wie ich vermute, versuchen Sie anhand Ihres Buches diese Erfahrungen zu verarbeiten. Inwiefern trennt Ihr Werk Fiktion und Realität?
Holberg: Die einzelnen Episoden sind alle wahrheitsgemäß beschrieben. Das Buch endet aber nicht im Jahr 2000, sondern blickt zum Schluss noch auf ähnliche Vorgänge. Zum Beispiel nehme ich auch die Finanzkrise 2008 genau ins Bild. Von daher habe ich versucht, das Problem zu beleuchten, wie Macht oft großen Schaden anrichtet und dass dies nicht bloß eine lokale Geschichte ist.
Ich persönlich komme aus dem Bereich der Biologie und sehe Ursachen für skrupelloses Handeln durch bestimmte Eigenschaften im Hirn angelegt, bei einem Teil der Menschheit. Leider sorgen ihre Machenschaften für große Probleme. Das ist bestürzend.
stadt40: Ich möchte noch auf den Zerfall der Sowjetunion 1989 eingehen und auf dieKonsequenzen, da Ihr Werk versucht, eine neue Perspektive auf diese Geschehnisse zu werfen. Eine Perspektive, die häufig auch aus deutscher Sicht nicht bewusst ist. Haben Sie das Gefühl, dass dieser Blick heutzutage verloren geht?Und wenn ja, wieso?
Holberg: Der Fokus des Buches lag jetzt nicht auf dem Zerfall Russlands, aber der spielte selbstverständlich eine Rolle. Das Handeln der Oligarchen hatte mich sehr bestürzt. Ihre wirtschaftskriminellen Machenschaften ruinierten das Land kolossal. Boris Jelzin, der ehemalige Präsident, hatte dies ermöglicht, da er den Leuten die Möglichkeit eröffnen wollte, wirtschaftlich aktiv zu werden. Er hatte riesige Geldsummen zur Finanzierung freigegeben, die aber nicht wie geplant verwendet wurden.
stadt40: Wenn Sie so freimütig erzählen, auch über Ihre Erlebnisse in Bulgarien, haben Sie jemals selbst das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein? Zum Beispiel zu offenzu schreiben und dadurch Leute auf den Plan zu rufen, die Ihnen oder Anderen schaden könnten.
Holberg: Das kann man sicherlich nie ganz ausschließen, aber es gibt ja viele Personen, die über Wahrheiten berichten. Ich wollte den Weg der Authentizität gehen, um ernst genommen zu werden.
stadt40: Sie beschreiben Ihr Buch als kulturkritisch oder auch gesellschaftskritisch. Was genau wollen Sie damit ausdrücken? Ich würde mich zum Beispiel auch als kulturkritisch beschreiben, bin dennoch in vielen Bereichen optimistisch – vielleicht auch naiv. Sind Sie Kulturkritiker oder gar Kulturpessimist? Und wie kommt man von der Kritik zu einer Form der Veränderung?
Holberg: Also ich finde es wichtig, dass eine Wahrnehmung für Probleme entsteht. Deshalb ist es auch gut, dass Sender existieren, die Hintergrundberichte verstärkt bringen, wo man dann angeregt wird, drüber nachzudenken oder auch selber aktiv zu werden. Ich denke schon, dass sich Manches zum Positiven ändern kann, aber es zeigt sich schwerfällig. Hoffen lassen einige Leuchttürme wie Greta Thunberg, wo die Jugend doch mal ein Ohr aufmacht und hinschaut. Aber die Konzerne sind schon ziemlich zementiert in ihrem Handeln...
stadt40: Aber haben wir im letzten Jahr neben den negativen Veränderungen – wie zum Beispiel Corona – nicht auch viele Fortschritte gesehen? Die Black Lives Matter Bewegung oder Fridays for Future fallen einem dabei ein. Haben Sie das Gefühl, dass es einen Aufschwung gibt in diese Richtung?
Holberg: Das Denken zeigt natürlich auch positive Ansätze. Als die Grünen in der Politik Fuß fassten, bin ich sofort dabei gewesen. Sie haben wirklich erreicht, dass sich ein viel größerer Kreis um die Umwelt sorgt und aktiver wurde.
stadt40: Meinen Sie, dass es heute noch stärker ist als vor 20 bis 30 Jahren?
Holberg: Ich glaube schon... Es gibt ja entsprechende Organisationen, die sich zunehmend einsetzten. Aber im nächsten Moment erlebte man z. B., dass Trump Mitgliedschaften kündigte, die wichtig für die Umwelt sind. Dann fragt man sich wieder, ob alles Initiierte genügt.
stadt40: Und wie kommen wir von der Kritik zur Veränderung? Wie denken Sie, könnte ein Lösungsansatz aussehen?
Holberg: Zunächst spielt die Wahrnehmung eine große Rolle. Ich glaube, dass viele Menschen nach wie vor extrem mit sich selbst beschäftigt sind. Die Neuen Medien, wie TikTok und Co, fördern das ja sogar, es soll bloß der Spaß im Vordergrund stehen. Da sehe ich ein Problem. Neben den schlechten Dingen hat Corona zumindest dazu geführt, dass ein vermehrtes Reflektieren stattfindet.
stadt40: Glauben Sie, dass das langfristig zu nachhaltigen Veränderungen führt?
Holberg: Ich würde mir von Politikern wünschen, dass sie Ursachen für Miseren stärker thematisieren. Ihre Reden, wie jetzt bei Corona, beschränken sich auf die Bekämpfung durch Tests, Impfungen und Finanzierungen. Zum Thema der bald unwirksamen Antibiotika hört kaum einer etwas. Tiermastbetriebe setzen diese Medikamente für maximale Erfolge in horrenden Mengen ein und fabrizieren so Bakterien, die Multiresistenz oder Totalresistenz aufweisen. Die WHO signalisierte hier längst Alarmstufe Rot.
stadt40: Um noch mal zurück zum Buch zu kommen. Wieso würden Sie einem potenziellen Leser empfehlen, Ihr Buch zu lesen?
Holberg: Ich bringe in dem Buch verschiedene Perspektiven, das, was auch Philosophen beim Fragen nach der Existenz aufgeworfen haben. Mein Werk soll überhaupt zum Denken anregen.
stadt40: Ihr Roman wurde 2017 veröffentlicht. Seitdem ist vieles passiert. Inwiefern würden Sie sagen, dass Ihr Werk uns auch heute noch Erkenntnisse bringen kann? Hat es eine Gegenwartsrelevanz?
Holberg: In diesem Buch werden immer wieder Eigenschaften von Menschen betrachtet und ergründet. Man kann dadurch eine kritische Position entwickeln. Je mehr so etwas gelingt, desto wahrscheinlicher nimmt die Toleranz für Untaten ab.
stadt40: Möchten Sie unseren Lesern kurz vor dem Schluss des Interviews noch etwas mitteilen?
Holberg: Grundsätzlich habe ich mich intensiv damit beschäftigt, was Wahrnehmungüberhaupt ist. Im Prinzip ist man der Meinung: Ich höre und sehe etwas, und das ist die Wahrheit. Das ist aber oft nicht der Fall. Der emotionale Faktor entscheidet schonvorher enorm, was jemand glauben will oder nicht. So neigen beispielsweise eher junge Menschen dazu, den Klimawandel zu bestätigen als zu leugnen.
stadt40: Erwachsene scheinen in der Corona-Krise vermehrt Probleme mit der Quelleneinschätzung in den sozialen Medien zu haben. Dies ist u. a. ein Problem bei Verschwörungsgläubigen. Lassen sich Emotionen als steuernde Einflüsse für Überzeugungen ggf. dämpfen?
Holberg: Mich beeindruckt der Buddhismus, sein ganz bewusstes Rausnehmen der Emotionen aus dem Dasein. Trotzdem leben diese Menschen für uns verwirrend glücklich. Leider okkupierte China den Tibet und übt dort Repressionen aus.
stadt40: Ihr Schlusswort?
Holberg: Ich finde, dass man über das Wort „Helden“ nachdenken sollte. Was sind Helden der Gesellschaft? Fußballer wohl kaum noch. Man müsste die Fähigkeit entwickeln, andere Menschen zu verehren, solche, die etwas für ihre Mitmenschen bewirken. Zum Beispiel Greta Thunberg. Sie handelt selbstlos und tritt für etwas ein, das Hoffnung macht. Wenn dieser Wandel stattfinden könnte, dass wirkliche Helden Ansehen bekommen, das fände ich gut.
Wollen Sie weiteres über Thomas Holberg erfahren?
YouTube: https://www.youtube.com/channel/UCL-jSzdJEKGDpOUfPPcnXJA
Homepage: https://thomasholberg.de/
Zum Buch "Die böse Seite des Glücks": https://tredition.de/autoren/thomas-holberg-21547/die-boese-seite-des-gluecks-paperback-95011/