Moskau hat nach eigenen Angaben am Freitag den Rückzug seiner Truppen aus dem Norden der ukrainischen Region Cherson (Wikipedia) abgeschlossen. Russische Soldaten hielten die strategisch wichtige Stadt am Nordwestufer des Dnipro seit Februar besetzt. Ein Überblick:
Warum zieht sich Russland gerade jetzt zurück?
Durch den Abzug könne das Leben tausender Soldaten gerettet werden, sagte der russische Befehlshaber für die Ukraine, Sergej Surowikin. Die russischen Truppen in Cherson waren durch die Ende August gestartete ukrainische Gegenoffensive unter Druck geraten. Mit vom Westen gelieferten Artilleriegeschützen großer Reichweite beschoss Kiew wochenlang ununterbrochen russische Munitionslager und Nachschublinien in der Region. Auch wurden immer häufiger prorussische Kader gezielt getötet. "Der Feind hatte keine andere Wahl als zu fliehen", sagte Oleksij Gromow vom ukrainischen Generalstab.
Moskau hatte bereits am 18. Oktober die Evakuierung von Zivilisten und der Besatzungsverwaltung aus Cherson auf das südöstliche Dnipro-Ufer angeordnet.
Was bedeutet der Rückzug für Moskau?
Der Truppenabzug ist ein erheblicher Rückschlag für den Kreml. Moskau hatte Cherson zusammen mit drei weiteren ukrainischen Regionen im September für annektiert erklärt und beharrt darauf, dass diese Gebiete "für immer" russisch bleiben würden.
Strategisch wird es für Russland ohne einen Brückenkopf in Cherson schwierig sein, die Offensive in Richtung der ukrainischen Stadt Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortzusetzen. Auch könnte Moskau die Kontrolle über den Kachowka-Damm am Dnipro verlieren, der für die Wasserversorgung der annektierten Halbinsel Krim wichtig ist. Überdies wären die ukrainischen Truppen von Cherson aus in der Lage, mit ihrer Langstreckenartillerie direkt die Krim anzugreifen.
Dieser zweite große Rückzug innerhalb von zwei Monaten könnte auch die Moral der russischen Truppen schwächen - zumal hunderttausende Reservisten im Einsatz sind, von denen die meisten keine wirkliche militärische Erfahrung haben.
Welche Reaktionen gibt es in Russland?
Die russischen Sender berichteten am Donnerstag kaum über den Rückzug - wie bei vielen schlechten Nachrichten von der ukrainischen Front. Im Gegensatz zu früheren russischen Rückschlägen stimmten die kremltreuen Hardliner dem Rückzug weitgehend zu und hielten sich mit Kritik an der militärischen Führung zurück. Sowohl Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow als auch der Anführer der mächtigen paramilitärischen Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, sprachen von einer schwierigen, aber notwendigen Entscheidung.
Wie geht es nun weiter?
Der Rückzug aus Cherson dürfte es den russischen Streitkräften ermöglichen, sich hinter der natürlichen Barriere des Dnipro zu verschanzen, was den Ukrainern das Vorrücken erschweren würde. Moskau will sich nach schweren Verlusten auch Zeit lassen, um die seit September einberufenen Soldaten auszurüsten und auszubilden - möglicherweise für eine neue Offensive nach dem Winter. Vertreter der US-Regierung zogen auch in Betracht, dass nun die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau wieder aufgenommen werden könnten.
sp/ju
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